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Dunkelmond

Dunkelmond

Titel: Dunkelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Picard
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der Gestalt auf, so intensiv, dass das Blau beinahe violett wirkte. Die offene Hand, die bisher nur mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht gestrichen war, griff auf einmal zu, mitten hinein in Sanaras Kopf, und grub sich tief in ihre Gedanken.
    Als sei ein Damm gebrochen, strömten Bilder über Sanaras Geist hinweg, von denen sie lange geglaubt hatte, sie vergessen zu haben.
    Eine Sonnenechse auf einem Sandsteinsims, flirrend vor Hitze und Sonnenglast.
    Ein kleines, blondes Mädchen, das mit einer Amdiri-Muschel in der Hand vom Strand hinauf zu einem Herrenhaus läuft.
    Das Gesicht eines blonden Mannes in den besten Jahren, der weiße Hoftracht trägt. Auf seiner Brust ein stilisierter Kristall, um den sich eine Sonnenechse windet. Er umarmt sie lachend.
    Sie und drei Gleichaltrige hocken vor einem alten Mann, der eine rote Toga mit gelben Stickereien trägt, in einem Hof. Sie sitzen hoch über einem saphirblauen Meer, unter den zwei Sonnen, und üben magische Formeln.
    Ein im Licht der Zwillingsmonde blitzendes Schwert, das sich an die Kehle des Vaters legt. Das hassverzerrte Gesicht des jetzigen Königs, der das Schwert führt. Der Griff des Shisans, der sie mit aller Gewalt in den Schatten einer Säule im Tempelraum zerrt.
    N ein! Nein, ich darf nicht! Jeder wird wissen, wer ich bin.
    » NEIN !«
    Ein Schrei erklang, der nicht nur in der Realität zu hören war. Es brauchte eine Sekunde, bis Sanara begriff, dass sie ihn ausgestoßen hatte.
    Plötzlich wusste sie, was zu tun war. Sie rief lange vergessene Worte, verschlang unwillkürlich beide Daumen miteinander und stieß die Hände offen nach vorne. Die Kälte, die bis in ihre Knochen vorgedrungen war, war plötzlich verschwunden. Ihr wurde erst warm, dann heiß. Goldene Flammen umloderten sie, schützten sie vor den kalten, grauen Nebeln, die ihren Geist durchforstet hatten, und steckten erst die Finger der Gestalt, dann diese selbst in Brand.
    »Ich sagte geh! «
    Die Gestalt schrie ihrerseits auf, schrill und klagend. Der Ton durchdrang Sanara und ließ sie die Hände auf die Ohren pressen. Für eine quälend lange Zeit hallte der Klang nach und wurde zwischen den Wänden des Verlieses hin- und hergeworfen.
    Dann war Stille.
    Erst jetzt wagte Sanara, die Augen zu öffnen und sich umzusehen. Es war immer noch dunkel. Doch die winzige Flamme in der Mitte des Verlieses war nun eher gelb als blaugrün. Die plötzliche Wärme schüttelte ihren Körper wie Fieber und ließ ihr den Schweiß in Strömen ausbrechen.
    Sanara sah an sich herunter. Sie zitterte. Aus Angst? Als sie sich mühsam an der Wand hochzog, um sich den Wasserkrug zu holen, der neben der Tür stand, spürte sie, dass der Fels nicht mehr feucht war, sondern trocken, und sogar eine schwache Wärme ausstrahlte.
    Durstig trank sie das schale Wasser und hoffte, dass es nicht zu lange dauern würde, bis die Wachen neues brachten. Das Fieber in ihr schien abzuflauen.
    Sie sah sich erneut um. Die grauen Nebelschwaden in den Ecken standen wieder still.
    Der Geist war verschwunden.
    Hatte sie ihn verscheucht? Wieder tauchten vor ihrem inneren Auge die Bilder auf, die der Geist aus ihrem tiefsten Kern geholt zu haben schien. Hatte er das alles ebenfalls gesehen?
    Erst jetzt wurde ihr klar, dass man den Geist geschickt hatte.
    Sie war nicht nur verhaftet worden, weil man sie für eine starke Dunkelmagierin hielt. Man hielt sie für eine Amadian. Und dieser Geist hatte versucht, sie zu einem Geständnis zu bringen.
    Sanara wurde übel.
    Die Flucht. Eine Flucht, die zehn Jahre gedauert hatte. Angst. Angst vor den Schlägen der Stärkeren auf der Straße. Vor den Schlägen derer, denen man Brot oder Obst stahl. Vor den Angriffen jener, denen man in einer schmutzigen Gasse das Nachtlager stahl. Angst vor lüsternen Händen, gegen die man sich nicht wehren durfte, wollte man nicht qualvoll sterben …
    Sanara sank schluchzend auf dem Boden des Kerkers zusammen.
    Einen Geist hatte sie besiegt.
    Doch die Gespenster der Erinnerung waren ihr geblieben.
    Der Wald war zu still.
    Nichts rührte sich in den Bäumen oder im Unterholz, als Telarion Norandar die mit dem Wappen seines Hauses bestickte Decke zu seinem Zelt zurückschlug und hinausblickte. Er hatte nicht schlafen können, obwohl sie nun endlich den Wald von Dasthuku erreicht hatten.
    Die Überquerung des Lithon war schwierig gewesen. Tarind hatte darauf bestanden, die Flussseite zu wechseln, noch bevor sie die nördlichen Berge von Guzar erreichten. Er hatte

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