Dunkelmond
Glühen in seinem tiefsten Inneren erloschen. Das Gras blieb dunkel. Was ihm noch vor einem Umlauf des Silbermonds ein Leichtes gewesen war – den Flammen zu befehlen –, verhinderte die Goldene Magie, die er durch die beiden Bänder auf der Haut trug.
Nicht einmal der Anblick der wie leblos schlafenden Berennis hatte den Funken in ihm schüren können.
So blieb sie, wie sie war: leblos. Ihre Seele war fort.
Und doch konnte Sinan sie nicht loslassen. Es war, als habe er in der selbstgestellten Aufgabe so lange noch nicht völlig versagt, wie sie noch nicht ganz tot war.
Sinan selbst hatte keine Vorstellung von der Jenseitigen Leere, er hatte sie nie betreten. Er besaß nicht ein Quäntchen jener Gabe, die der Dunkle Mond seinem Vater und seiner Schwester im Übermaß geschenkt hatte. Er wusste nicht, wie es dort aussah. Einmal hatte er seine Schwester danach gefragt, als diese angefangen hatte, von den Shisans des Westens zu lernen, wie mandie Nebel betrat, aus deren Stoff die Toten gemacht waren. Er war neugierig gewesen.
Doch Sanara hatte nur wenig erzählt. Nicht, weil sie nicht gewollt hätte; Sinan hatte den Eindruck gewonnen, dass sie nicht mehr preisgeben konnte. Wie es schien, waren die Jenseitigen Ebenen ein Ort, der nicht mit Worten zu beschreiben war. Seine sonst so lebhafte und temperamentvolle Schwester war einsilbig und ernst geworden, sie hatte nach Worten gerungen und am Ende nur die Gefühle schildern können, die die erste Wanderung durch die Nebel in ihr hinterlassen hatte und von denen sie sicher war, dass es die Gefühle der Seelen waren, die nicht zu ihrem Schöpfer hatten gehen dürfen: Einsamkeit, die so unendlich war wie die Nebelebenen selbst. Schmerzhafte Sehnsucht nach etwas, das auf ewig verloren war. Und tiefste Trauer, ohne den Gegenstand dieser Trauer zu kennen.
Sowohl er als auch Sanara waren jung gewesen und hatten die ehrfurchtsvolle Stimmung am Strand des Saphirmeers schnell wieder abschütteln können. Jetzt kam Sinan das Gespräch immer dann in den Sinn, wenn er Berennis’ ausdrucksloses Gesicht mit den geschlossenen Augen sah.
Der Gedanke, sie könne eine dieser Seelen sein, die Sanara mit ihrer Gabe gefühlt hatte, drang tief in Sinans gedämpftes Bewusstsein.
Er wusste, wenn er Berennis allein ließ, würde auch ihr Körper sterben, denn außer ihm gab es niemanden mehr, der sie pflegen wollte und konnte. Sie war schon jetzt bis auf die Knochen abgemagert. Es war kaum möglich, ihr etwas zu essen einzuflößen, da sie ihre Muskeln nicht bewegen konnte. Dennoch versuchte er es wieder und wieder, indem er das Essen zerkleinerte und ihr dann vorsichtig wie einem Kleinkind in den Mund schob.
Doch seine Pflege half ihr nicht. In Sinan schwand die Hoffnung, dass ihre Seele den Weg zurückfand, mit jedem Tag mehr. Und mit jedem Tag wuchs das Gefühl, versagt zu haben. Nicht einmal die Tatsache, dass er weiter im Dienst des Heermeistersbleiben würde und so vielleicht die Gelegenheit bekam, seine Schwester wiederzusehen, ermutigte ihn noch. Was hätte er ihr sagen können? Er hatte sie erneut überreden wollen, ihre Gabe einzusetzen, um die Gerechtigkeit wieder herzustellen.
Doch wer war er nach seinem Versagen, das einzufordern?
Sinan, Githalad und Aedan waren beinahe die Letzten im Lager, als eines Morgens, während Sinan Berennis’ Körper fütterte, ein Schatten im Eingang seiner Hütte auftauchte.
»Der Heermeister wünscht, dass du heute die Arbeit an seinem daikon aufnimmst«, hörte Sinan eine ihr bekannte Stimme sagen. Es war Hauptmann Gomaran, der Vertraute Telarion Norandars. Sinan sah nur kurz auf. »Er wird sich einen anderen suchen müssen. Ich werde nicht mitkommen.«
Gomaran wollte auffahren, doch dann sah er, was Sinan aufhielt. Er bückte sich und trat neben den lannon , auf dem Sinan saß. Plötzlich breitete sich der bittere Geruch zerriebener Mayalablätter aus und kitzelte Sinan in der Nase.
Der Blick des Hauptmanns wanderte von ihm zu der wie schlafend daliegenden Berennis. Dann legte er zu Sinans Überraschung behutsam seine Hand auf ihre Stirn. Der Schmied glaubte, einen kaum sichtbaren Goldschimmer unter der Hand des Hauptmanns aufglimmen zu sehen.
Als Gomaran sich wieder erhob, war sein Gesicht ausdruckslos. »Ihre Seele ist in die Nebel gegangen und wird nicht zurückkehren«, sagte er ruhig. »Ich weiß nicht viel von Heilkunst und noch weniger von dem, was eure Meister des Todes tun. Aber ich bezweifle, dass selbst mein Fürst oder
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