Dunkelziffer
unsere innere Wachstumskraft, unsere treibende Lebenskraft. Die Banalisierung der Sexualität ist die Geißel unserer Zeit.«
»So weit bin ich einverstanden«, sagte Söderstedt. »Ich habe fünf Kinder.«
»Das habe ich geahnt«, sagte Lindblad. »Ich habe vier.«
»Ich weiß. Aber dann? Der nächste Schritt?«
»Die meisten Menschen von heute haben die Sexualität einfach zu einer Handlung unter anderen gemacht. Ich gehe einkaufen, ich jogge, gehe zum Sport, habe Sex, esse Schokolade, trinke Malt Whisky. Die Sexualität als Ware, die das Lebensgefühl ein wenig erhöht. So wie man aufhören kann, Schokolade zu essen, weil man davon dick wird, so kann man mit Sex aufhören. Man kann die Sexualität haben und verlieren, und man kann sie leicht durch einen anderen, kleineren Genuss ersetzen. So war es auch für mich. Bis ich meiner jetzigen Frau begegnet bin. Sie zeigte mir den Kern und die Wurzel des Lebens.«
»Und sie hat Sie mitgenommen zu Fac ut vivas?«
»Ja. Dem Menschen von heute fehlt die basale Lebenskraft. Und von denen, die die Sexualität wirklich ernst nehmen, tun es immer mehr aus den falschen Gründen, sie tun es mit einem destruktiven Dreh, der unsere grundlegende Lebenskraft zu einer Todeskraft macht. Neunundneunzig von hundert sind eigentlich gleichgültig gegenüber der Lebenskraft, aber der Letzte ist mehr und mehr auf den Tod orientiert. Jenseits der gleichgültigen asexuellen Masse findet heute ein Kampf zwischen Lebenskraft und Todeskraft statt, und zwar im Innersten unserer Seelen!«
Arto Söderstedt nickte und sagte: »Im Hinblick auf diesen Kampf kann es nicht überraschen, dass sich Fac ut vivas auf diejenigen stürzt, die für eine vom Todestrieb gelenkte Sexualität stehen...«
»Das glaube ich immer noch nicht«, sagte Olof Lindblad. »Dann werden ja wir selbst ein Teil der...«
Söderstedt nickte wieder und sagte: »Das scheint das eigentliche Paradox zu sein«, sagte er.
»Haben Sie irgendwelche Beweise?«, fragte Lindblad und näherte sich allmählich wieder seinem normalen Alltagsich an.
»Eine ganze Menge«, sagte Söderstedt. »DNA und Augenzeugen aus Ängermanland und jetzt auch Fingerabdrücke auf einer Kanüle und eine Klaviersaite. Mitsamt Zeugenaussage der Tochter des Mörders, die Fac ut vivas zu allem Über fluss entführt zu haben scheint, um sie in einem Ritual zu >reinigen<. Was ist das für ein Reinigungsritual?«
»In gewissen Situationen ist es möglich, einen Abwärtstrend umzukehren...«
»Das heißt, jemanden zu bekehren, der auf dem Weg ins Negative, ins Reich der Todeskraft ist?«
»So ungefähr, ja...«
»Haben Sie an einem solchen Ritual teilgenommen?« »Ja«, sagte Lindblad und schwieg.
»Und jetzt steht also wieder ein Ritual bevor? Wann und wo?«
Olof Lindblad schwieg. Sein Blick senkte sich zu Boden. Es war nicht das Schweigen des hartgesottenen IT-Direktors. Es war ein anderes Schweigen.
Es war ein moralisches Schweigen.
Arto Söderstedt sagte sehr milde: »Fac ut vivas hat zwei Personen entführt, ein vierzehnjähriges Mädchen und einen engen Freund von mir. Ich gehe davon aus, dass nicht die Absicht besteht, einem von ihnen Schaden zuzufügen, aber wir müssen sie finden. Und das können wir nur durch dieses Ritual. Sie müssen davon berichten.«
»So läuft das nicht ab«, sagte Olof Lindblad, den Blick immer noch zu Boden gerichtet.
»Wie dann?«, fragte Söderstedt sehr deutlich.
Lindblad schnitt eine Grimasse, sodass sich sein Gesicht zusammenzog. Es sah aus, als beiße er sich an einer Zitrone fest.
Allem Anschein nach begriff er - ebenso wie Söderstedt und Norlander -, dass dies der entscheidende Augenblick war.
Was bedeuten Treue und Loyalität? Was bedeuten Idealismus und Realismus? Wo liegen unsere inneren Grenzen?
Olof Lindblad sagte: »Es beginnt immer um acht Uhr am Abend. Sie rufen eine halbe Stunde vorher an und teilen den Ort mit. Es ist immer ein anderer.«
»Und an welchem Tag wird das Ritual stattfinden?«, fragte Arto Söderstedt.
»Heute«, sagte Olof Lindblad und sah ihm tief in die Augen.
32
Sie hatten so lange im Wagen gesessen, dass dessen Inneres stark wie Zimmer 304 im Präsidium zu riechen begann. Nach drei Stunden in Sätra waren Jorge Chavez und Jon Anderson nicht mehr sicher, ob sie sich in der wirklichen oder in der virtuellen Welt befanden.
Eigentlich kam es ihnen nicht sicherer vor, als das ungreifbare Zeitloch sich plötzlich füllte. Eher unsicherer. Als wäre das gesamte Bewegungsmuster
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