Dunkelziffer
unschuldig verurteilt war, dass er nie jemanden vergewaltigt hatte, dass er das Opfer einer haarsträubenden Justizwillkür war.«
»Und bei dieser Fixierung spielte eine Tochter keine Rolle?«
»Absolut nicht. Keiner wäre glücklicher gewesen als Sten, wenn er eine Tochter gehabt hätte. Er liebte Kinder wirklich.«
Der Schlusssatz musste erst einmal in die Ohren der anwesenden Polizisten einsinken. Er glitt langsam durch die Gehörgänge, versetzte die kleinen Gehörknöchelchen in Vibration, den Hammer gegen den Steigbügel, und krepierte im Gehirn. >Er liebte Kin der wirklich<.
»Und Sie«, sagte Sara Svenhagen. »Lieben Sie Kinder wirklich?«
»Nein«, sagte Carl-Olof Strandberg. »Aber ich verstehe sie. Ich verstehe sie besser als sonst jemand. Und ich begehre sie. Das ist keine gute Kombination.«
»Besonders nicht, wenn man sie nicht liebt. Dann kann man ohne Gewissensqualen alles Erdenkliche mit ihnen machen.«
»Ja«, sagte Strandberg leise. »So ist es. Aber so war es nicht mit Sten Larsson. Er liebte sie. Ich glaube, er hat niemals irgendeine Form von Gewalt an einem Kind verübt.«
»Und was wäre passiert, wenn ein Kind Kontakt mit ihm aufgenommen und behauptet hätte, seine Tochter zu sein?«
Carl-Olof Strandberg machte eine hilflose Geste und sagte: »Er hätte sie mit offenen Armen empfangen.«
»Und er hat Ihnen nie erzählt, dass so etwas tatsächlich geschehen wäre?«
Strandberg war in einen merkwürdigen Zustand eingetreten - Schock, sicher, anderseits war er kaum der Typ, der leicht zu schockieren war. Dagegen hatte sich etwas in ihm geöffnet, und dass es galt, um jeden Preis zu vermeiden, dass diese Offenheit verloren ging, schien selbst Gunnar Nyberg einzusehen. Er saß mucksmäuschenstill da und vermied alles, was als Aggression gedeutet werden konnte. Seine äußere Erscheinung ließ nicht einmal Ungeduld erkennen.
Als Sara den Blick ein wenig nach links wandte, sah sie, dass dies bei Lena Lindberg eindeutig umgekehrt war. Sie schien zu kochen. Ein Wort schien im Innern des Dampfkochtopfs zu brodeln und jeden Moment mit explosiver Kraft in den Raum geschleudert werden zu können.
Und natürlich war dies das Wort >Klaviersaite<.
Aber noch hielt Lena sich zurück und überließ Sara die Gesprächsführung.
»Nein«, sagte Carl-Olof Strandberg. »Aber etwas war geschehen. Er erzählte nichts, doch seit etwa einem Monat war er so aufgekratzt, wie ich ihn nie zuvor erlebt hatte.«
»Und er hat keine Andeutung gemacht, was geschehen war?«
»Man muss ein wenig davon verstehen, welche Art von Leben Menschen wie wir leben. Jeder Kontakt mit anderen ist gleichsam künstlich, er spielt sich nicht in der richtigen Welt ab. Eine Situation wie diese hier betrachtet man von oben, als geschähe es nicht einem selbst. Denn die wirkliche Welt ist anderswo. Man ist gleichzeitig so allein wie nie und nicht mehr allein. Es gibt unseresgleichen. Die wirkliche Welt wird größer, aber sie existiert weniger denn je in dem, was Sie die wirkliche Welt nennen. Für unendlich viele Menschen verlagert sich die Wirklichkeit ganz einfach in die virtuelle Welt. Da kann man sich verwirklichen. Und das gilt für alle kleinen Perversionen, in allem finden sich Gleichgesinnte. Man braucht nicht mehr allein zu sein, es gibt keine Geheimnisse mehr. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, von welchen Dunkelziffern ich rede, fast alle sind dabei, in der einen oder anderen Weise, nichts von Belang geschieht mehr in der wirklichen Welt.«
»Dunkelziffern?«, sagte Sara Svenhagen.
»Das, was nicht aus der Statistik ablesbar ist«, sagte Carl-Olof Strandberg. »Und Sie, die darauf beharren, dass dies hier, wo wir jetzt sitzen, die Wirklichkeit ist, Sie werden zwangsläufig abgehängt.«
»Was wollen Sie damit genau sagen?«
»Dass der Schritt in das, was Sie die wirkliche Welt nennen, sehr, sehr groß ist. Die meisten tun ihn nie.«
»Aber gleichzeitig nehmen die Übergriffe lawinenartig zu.«
»Sie würden noch viel mehr zunehmen, wenn die Fantasien nicht in der virtuellen Welt ausgelebt werden könnten. Wir leben in einer Welt der Bedürfnisbefriedigung - ungefähr wie das späte Römerreich. Dekadenz. Das, wovon man fantasiert, muss Wirklichkeit werden. Es kann im Virtuellen Wirklichkeit werden. Wenn es das Virtuelle nicht gäbe, würden wir in einer grenzenlosen Orgie leben.«
»Und was hat all dies mit Sten Larssons neuem Zustand zu tun? Dass er >aufgekratzt< war?«
»Er glaubte nie, dass er die virtuelle
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