Dunkelziffer
Schaudern versorgen zu können. Jede Vorstellung endete mit einem neuen Clou.
Die Annalen berichten von einem legendären Maiabend auf dem Herrensitz des Herzogs Gravemonte im südlichen Frankreich. Eine imponierende Versammlung von Würdenträgern hatte sich im Schlosspark einem Maskenball gewidmet und nahm jetzt, nach dem Mahl, auf Bänken Platz, um einen Auftritt der für diesen Anlass engagierten Truppe des Leopold Chamelle mitzuerleben. Die Stimmung war ausgelassen, und während Bucklige und Dreibeinige, Wasserköpfe und Krüppel auf der Freiluftbühne des Schlosses vorüberzogen, stieg sie in ungeahnte Höhen. Nie fühlt sich der Mensch gesünder, als wenn er einen Kranken sieht.
Schließlich betrat Leopold Chamelle die Bühne. Er stand mit seiner von Motten zerfressenen Perücke und in seinem von Molière abgeschauten Bühnenmantel da und wartete still auf das Schweigen, das, wie er wusste, immer eintreten würde, diese Erwartung, wie eine Wolke, die sich um die Bühne zusammenzog. Er stand da und genoss es, dass es Adlige gab, die zu jeder Vorstellung herbeieilten, er erkannte sie hinter den Masken wieder. Schließlich war es vollkommen still. Die Wolke der Erwartung schloss sich um die Bühne des Schlosses und erhöhte den Druck beträchtlich.
Seiner Gewohnheit getreu begann er mit Donnerstimme und dennoch lakonisch: »Hoheiten, hochgeehrter Herzog, hochgeehrte Herzogin. Es ist Zeit für den Clou des Abends. Zuerst aber muss ich genau wissen, wie sensibel das Publikum heute Abend ist. Können Sie alles ertragen, mes amis?«
Das Publikum antwortete mit einem raunenden, sowohl männlichen als auch weiblichen oui.
Chamelle beugte sich ein wenig vor und sagte: »Sollte es sogar möglich sein, dass Sie eine Monstrosität - sexueller Art ertragen können?«
Das folgende oui war doppelt so laut, doppelt so erwartungsvoll.
Leopold Chamelle machte eine kurze Kunstpause - später sollte seine Rhetorik in Handbüchern als Beispiel einer Redekunst mit vollendetem Timing dienen. »Wenn es so ist, Hoheiten, dann darf ich präsentieren - Rigmondo!«
Auf die Bühne trat ein Mann von mittlerer Größe. Auch sonst war nichts Besonderes an ihm. Er sah ein bisschen wie ein Italiener aus, schrieb ein Augenzeuge, ein anderer nannte ihn einen virilen spanischen Jungstier, ein Dritter sprach von einem verängstigten und verwachsenen Kind. Aber sämtliche Quellen stimmten darin überein, dass er einen lose hängenden Mantel von der Art trug, die man heute wohl Badeumhang nennen würde. Würde man Rigmondo heute sehen, man würde ihn für einen Fliegengewichtsboxer halten.
Aber nicht, als er langsam und mit ausdrucksloser Miene den Umhang auf den Bühnenboden gleiten ließ. Ein langer und tiefer kollektiver Seufzer ging durch das Publikum. Einige Frau setzten zu einem erstickten Schrei an, den sie jedoch auf halbem Wege zu unterdrücken vermochten. Was aber dem armen Rigmondo auf der Bühne entgegenschlug, war vor allem als Ehrfurcht zu beschreiben. Vielleicht Respekt. Wenn nicht vor ihm, so doch vor seinem Organ.
Es war der größte und wohlgeformteste Penis, den die Welt je gesehen hatte. Er stand gerade hoch in stattlicher Erektion, und ein paar voneinander unabhängige Quellen behaupten, die weiblichen Schreie seien mehr und mehr in ein schmachtendes Stöhnen übergegangen. Da war etwas an der säulengeraden Form des Organs, das unnatürlich war. Und dennoch reine Natur.
Chamelle ließ seine tiefe Stimme vom Bühnenrand her vernehmen: »Rigmondo, mes amis, ist der Besitzer des einzigen Penisknochens der Welt. Sein Glied sieht immer so aus wie jetzt.«
Als Rigmondo schließlich, immer noch völlig ausdruckslos, die Bühne verließ, war dies das Letzte, was die Welt von ihm sah.
Als Leopold Chamelle spät in der Nacht seinen üblichen Kontrollgang durch die ordentlich verriegelten Viehwagen der Theatergesellschaft machte, war Rigmondos Wagen leer. Es fehlte jede Spur von ihm.
Nach dem Auftritt auf dem Herrensitz des Herzogs Gravemonte im südlichen Frankreich ging es allmählich bergab mit Leopold Chamelles Theatertruppe. Immer verzweifelter suchte er Ersatz für den großen Rigmondo, aber selbst die aufsehenerregendsten Missgeburten konnten es dem virilen spanischen Jungstier nicht gleichtun. Von Rigmondo sollte man nie wieder etwas hören.
Außer in Form der Legende. Die Forschung schien uneins, inwieweit Rigmondo jemals existiert hatte. Für die meisten war er ein gemeinsamer weiblicher und männlicher
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