Dunkle Beruehrung
getrieben hatte. Er war ein überheblicher Dummkopf gewesen und so sehr auf Gerechtigkeit erpicht, dass seine Besessenheit ihn geblendet hatte.
Aber hatte sie alles gesehen? Würde sie verstehen?
Als er wieder auf der Autobahn war, gab Matthias Rowan per Handy Bescheid, dass er den Wagen gewechselt hatte und jemand das andere Fahrzeug abholen solle.
»Wer ist hinter mir her?«, fragte er.
»Jeder, der in Atlanta ein Polizeiabzeichen trägt«, erwiderte sie. »Ms Alleswisser und du, ihr habt es in die Sechs-Uhr-Nachrichten geschafft. Aufnahmen von dir gibt es zwar keine, aber spätestens um elf strahlt jeder größere Fernsehsender das Gesicht der Frau aus. Dazu heißt es nur, ihr sollt als Zeugen eines versuchten Mordes an einem bekannten Geschäftsmann befragt werden. Du weißt ja, wie schnell Genaro handelt, wenn ihn etwas interessiert.«
»Allerdings.« Er hatte auf etwas mehr Zeit gehofft, aber das sollte nicht sein. »Und sonst?«
»Drew hat eine Kopie der Akte organisiert, die GenHance über Jessa angelegt hat«, sagte Rowan. »Die Aufzeichnungen reichen nur zehn Jahre zurück, davor existiert sie nicht – Jessa Bellamy und ihre Herkunft sind also erfunden. Natürlich weiß sie, wie man das anstellt. Mit dem Namen, den du ihm gesteckt hast, hatte Drew mehr Glück. Wieso macht sie eigentlich keinen Lärm? Hast du sie geknebelt?«
»Sie schläft.« Er bog und streckte seine rechte Hand, um endlich das Kribbeln loszuwerden, das seit der Berührung ihres Gesichts nicht nachgelassen hatte. »Sie hat ihre Begabung auf mich angewandt.«
»Böse Falle, Chef.« Sie seufzte. »Was willst du ihr sagen, wenn sie aufwacht?«
»Sie weiß es wahrscheinlich ohnehin schon.« Matthias schaute Jessa an und wünschte, sie würde erwachen. Das würde ihren Transport natürlich erschweren, aber er wollte ihre Augen wieder sehen. Einer Frau mit regenfarbenen Augen war er noch nie begegnet. »Erzähl mir von dem Glück, das Drew mit dem anderen Namen hatte.«
»Ich lade gerade die vielen Daten runter, die er Genaro gestohlen hat – einen Moment noch.« Kurz darauf sagte sie: »Gut, ein Allen Taggart Price kam ’98 in Savannah bei einer Schießerei am Arbeitsplatz um – genau wie sieben Angestellte eines Investment-Unternehmens. Erschossen wurden alle von einer geisteskranken früheren Mitarbeiterin namens Jennifer Johnson. Angeblich gab es aber eine Überlebende, Minerva Jessamine Starret, zweiundzwanzig Jahre alt.« Rowan zögerte. »Es war ihr erster Arbeitstag. Armes Mädchen.«
Matthias hörte sie kaum, so sehr schoss das Blut ihm zu Kopf. »Minerva.«
»So schlimm ist der Name gar nicht. In der Mittelstufe kannte ich einen Jungen, der Jesus Supreme Lord Loomis hieß. Wir nannten ihn Loomy Tunes.« Sie blätterte um. »Es gibt keine Geburtsurkunde, aber einen Bericht des Jugendamts. Das Mädchen wurde vermutlich 1976 in Chicago geboren und ausgesetzt, war als Kleinkind in einem katholischen Waisenhaus und wurde 1981 – wer hätte das gedacht? – von Darien Thomas Starret aus Savannah adoptiert; er hatte keine Frau, also bekam das Kind keine Mutter. Im selben Jahr wurde es auf eine teure Schweizer Privatschule geschickt, blieb dort bis zum Abitur, studierte danach in Frankreich, kehrte ’97 in die USA zurück und lebte bei ihrem Vater, der ’98 eines natürlichen Todes starb – wenige Monate, bevor sie angeschossen wurde.«
»Du sagtest, Minerva war die angebliche Überlebende – was soll das heißen?«, fragte Matthias.
»Dass es nicht sicher ist. Minerva bekam aus nächster Nähe einen Schuss in die Brust, wurde ins Krankenhaus gebracht und lag dort drei Tage in kritischem Zustand. Laut Aufnahmeuntersuchung hat die Schusswunde Lunge und Herz sehr geschädigt. Da niemand glaubte, sie würde die nächsten ein, zwei Stunden überleben, wurde sie nicht operiert.« Rowan blätterte erneut. »Und jetzt wird es wirklich interessant: Minerva hat das Krankenhaus drei Tage später verlassen.«
»Nach dem Schuss in die Brust?«
»Zehn Zeugen schwören, sie haben sie das Krankenhaus verlassen sehen. Danach tauchte sie nicht mehr auf, wurde offiziell vermisst gemeldet und 2005 für tot erklärt, damit ihr Erbe versteigert und der Erlös an den Fiskus fallen konnte.« Sie gluckste amüsiert. »Dreimal darfst du raten, woraus das Erbe hauptsächlich bestand.«
Das wusste er bereits. »Aus Sapphire House.«
»Mhm. Macht es dir was aus, mir bitte mal zu sagen –«
»Ja, macht’s mir«, erwiderte er ungerührt.
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