Dunkle Beruehrung
»Gibt es ein Foto von Minerva Starret?«
»Im Führerschein.« Rowans freundliche Stimme wurde sachlich. »Habe dir ein JPEG geschickt. Dürfte inzwischen auf deinem Handy sein.«
Auf dem Bildschirm seines Mobiltelefons blinkte das entsprechende Icon. Das Foto zeigte ein junges, lächelndes Mädchen mit schwarzem, kurz geschnittenem Haar. Die schlechte Aufnahme und die mangelhafte Ausleuchtung ließen die Farben blass und das Haar stumpf wirken, hatten die Energie und Entschlossenheit ihres Blicks aber nicht tilgen können.
»Und?«, fragte Rowan seltsam angespannt. »Ist dieses Prinzesschen unser Mädchen?«
»Jessa ist eher Königin als Prinzessin.« Matthias wechselte auf die Standspur, bremste, schaltete den Motor aus und hielt das Handy neben ihr Gesicht. Umriss und Form von Nase, Mund und Kiefer der Person auf dem Foto glichen denen von Jessa Bellamy. »Es gibt eine starke Ähnlichkeit. Steht in den Krankenhausunterlagen etwas über Muttermale oder Narben?«
»Von dem großen Loch in der Brust abgesehen …« Rowan verstummte für einige Zeit. »Wie wäre es damit: Minerva hatte ein kleines Tattoo innen am linken Handgelenk – eine schwarz-goldene Eule.«
Matthias drehte Jessas Linke nach oben und inspizierte sie, entdeckte aber nichts. »Sie hat dort kein Tattoo.«
»Vielleicht war sie es, die geschossen hat?«
»Nein.« Matthias griff ihr ins Haar und rieb es nachdenklich zwischen den Fingern. »Sie könnte nicht töten.«
»Und worauf gründest du diese Annahme? Darauf, seit einer Stunde ihrem Schnarchen zu lauschen?« Rowan grunzte. »Gaven, ich weiß, du magst sie, und bestimmt ist sie umwerfend, in Schwierigkeiten, hilflos und so weiter. Aber wenn das hier klappen soll, darfst du dich nicht mit ihr einlassen. Das darf keiner von uns.«
Matthias ließ ihr dunkles Haar aus den Fingern gleiten. »Sie schnarcht nicht.«
»Wie bitte?«
»Nichts.« Er setzte sich auf und schloss die Augen. »Ist alles vorbereitet?«
»Das Zimmer ist so weit, die Festung ist sicher, und Drew beginnt mit dem Papierkram. In einer Woche dürften wir umziehen können.«
Sieben Tage – mehr hatte er nicht. Danach würde er sie nie wiedersehen. »Prima. Leg dich nun schlafen. Morgen wird es am schlimmsten sein.«
»Weck mich, wenn du kommst.«
Matthias schaltete das Handy aus und griff nach den Fixierbändern, die statt einem Sicherheitsgurt am Beifahrersitz installiert waren. Es missfiel ihm, sie zu fesseln, aber sollte sie während der letzten Etappe der Reise erwachen, würde sie wahrscheinlich versuchen, ihm zu entkommen. Er drehte sie so, dass sie es in ihrer Fixierung möglichst bequem hatte, und schnallte ihre Arme fest. Dabei streifte er mit dem Daumen die feine Haut ihres linken Handgelenks und spürte etwas. Er langte nach oben, schaltete die Innenbeleuchtung ein und hielt Jessas Gelenk ins Licht.
Mit Mühe waren dort blasse, fast unsichtbare Linien zu erkennen.
Als er ihren Arm wieder vom Licht wegdrehte, hatten diese Linien – anders als die Haut ringsum – das Licht aufgesogen und reflektierten es. Der Umriss, den sie bildeten, war der eines kleinen, rundköpfigen Vogels.
Einer Eule, um genau zu sein.
Lucan fiel am Staat Georgia dreierlei auf: Die Gegend war wunderschön, der Dialekt ließ die Leute hier fast so unverständlich reden wie die Kubaner im Süden Floridas, und die Männer, die hier das Sagen hatten, waren nicht daran interessiert, von Frauen Konkurrenz zu bekommen.
»Was das Problem ist, Miss?«, fragte der diensthabende Polizist und stützte seinen massigen Körper mit dem Arm ab, um Samantha besser in den Ausschnitt spannen zu können. »Dass Sie hier unaufgefordert anrücken, um nach Feierabend einen Gefangenen abzuholen. Ich weiß nicht, wie Ihre Abteilung unten in Florida geführt wird, aber so läuft das in Atlanta nicht.«
Zu Lucans großer Enttäuschung sprang Samantha nicht über den zerkratzten Empfangstresen, um diesem unverschämten Sterblichen die Kehle durchzuschneiden. Sie war vielmehr die Geduld selbst und lächelte nur.
»Der Gefangene verfügt über erhebliche finanzielle Rücklagen, und es steht sehr zu befürchten, dass er flieht«, sagte sie dem Kerl. »Beim letzten Mal, als er unter Mordanklage Kaution hinterlegte, war er kurz darauf aus Florida verschwunden. Die Staatsanwaltschaft will nur sicherstellen, dass er sich in Fort Lauderdale vor Gericht verantwortet.«
»Lady, meinem Chef ist es egal, ob der Kerl vor einen Richter am Nordpol muss.« Er kicherte
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