Dunkle Ernte
ehe er auf der anderen Seite ankam. Aber sie konnte nur zwei Wege genommen haben. Der eine war zu beiden Seiten von kahlen Bäumen gesäumt, deren dicke Äste sich über ihm zu einem Dach kreuzten, und führte auf die Brücke zu, der andere nach links in Richtung der Studentenwohnheime.
Ed näherte sich langsam der Brücke und bemühte sich dabei nach Kräften um den Habitus des Professors, der von einer Vorlesung zur nächsten unterwegs war. Auf der Brücke blieb er stehen, um auf den Cam und die Stechkähne hinunterzusehen, die frühmorgendliche Touristen flussauf-und abwärts beförderten. Hier war sie nicht entlanggegangen, denn vor ihm auf dem Weg war niemand. Er wandte sich um, legte die Hände auf die Steinbrüstung und hielt sein Gesicht in die warme Sonne.
Als ihm eine Gruppe französischer Schulkinder mit einem Führer entgegenkam, beschloss er einfach abzuwarten. Vielleicht war seine Zielperson in das Gebäude gegangen und würde gleich wieder herauskommen.
Ed musste nicht lange warten. Die junge Frau erschien mit einem kleinen Rollkoffer, der über das unebene Pflaster holperte, und hatte es ebenso eilig wie zuvor. Seine Intuition hatte ihn offenbar nicht getrogen. Sie telefonierte, und er konnte zwar nicht hören, was sie sagte, doch ihre ängstliche Miene verriet ihm, dass sie nicht nur einfach eine Studentin war, die zu spät zu einer Exkursion zu kommen drohte.
Er heftete sich an ihre Fersen. Bei dem Tempo, das sie vorlegte, war es nicht einfach, dabei unbemerkt zu bleiben. Es ging durch das große Eingangstor des King’s College auf den Marktplatz hinaus, der jetzt voller Menschen war. Immer wieder stieß in dem dichten Gedränge jemand gegen seine Schultern. Vor der Guildhall stand ein Straßenmusiker, der ebenso hingebungsvoll wie schauderhaft Bob Marleys »Redemption Song« jaulte. Hoffentlich verlor er sie und ihren dunkelblauen Mantel nicht aus den Augen. Sie bog in eine Seitenstraße ein, dann in die St. Andrews Street und eilte vorbei an den Läden, die Kapuzensweatshirts mit dem Logo der Universität verkauften und mit Sicherheit ausschließlich von amerikanischen Touristen frequentiert wurden. Die Innenstadt von Cambridge war relativ kompakt und zum großen Teil Fußgängerzone. Ed sah den blonden Schopf in der Ferne auf und ab hüpfen. Konzentriert, wie sie war, hatte sie ihn bestimmt noch nicht bemerkt. Auf dem eiligen Weg durch einen Park blickte die junge Frau immer wieder auf ihre Uhr und ihr Handydisplay, während Ed versuchte, unauffällig in ihrer Nähe zu bleiben. Da er sich in der Stadt nicht auskannte, war das nicht so einfach. Schließlich bog sie in die Jesus Lane ein, sprang mit gezücktem Hausschlüssel die Treppe zum Eingang hoch und war im nächsten Moment in der Tür verschwunden.
Ed prägte sich die Hausnummer ein, eilte aber in unvermindertem Tempo an der Tür vorbei, als wäre er zu einem wichtigen Termin unterwegs. Auf dem Gehsteig gegenüber war eine Telefonzelle. Er ging rasch über die Straße, stellte sich hinter die rote Kabine, den Blick auf das Haus gerichtet, und tippte die Nummer der Zentrale in sein Handy, Abteilung Außendienstbetreuung.
»Ich brauche Infos über eine Adresse, Jesus Lane Nummer acht, sowie Namen und Bilder von allen, die dort wohnen.« Er hörte, wie am anderen Ende eine Tastatur bearbeitet wurde, wie die Mitarbeiterin Datenbanken und Wählerlisten durchsuchte und schließlich fand, was er suchte.
»Die Profile werden gesendet. Zwei junge Frauen. Eine studiert Medizin, eine Sozialanthropologie. Das Haus gehört der Universität«, sagte die Stimme am Telefon.
Ed wartete, bis das erste Foto auf seinem Display erschien. Eine lachende Blondine. Name: Amanda Marshall. Das war sie.
»Ich brauche eine Kontaktliste für Amanda Marshall. Verwandte, enge Freunde. Namen und Adressen. Es könnte sein, dass sie sich mit der Zielperson aus dem Staub machen will, da brauche ich Anhaltspunkte, wo sie möglicherweise hinfahren.«
Ed steckte das Handy wieder in die Tasche, ohne den Blick vom Haus abzuwenden. Amanda tauchte kurz am Fenster im ersten Stock auf. Sie schaute lächelnd zu einer männlichen Gestalt hinter sich und zog dann die Vorhänge zu. Ed konnte zu wenig erkennen, um wirklich hundertprozentig sicher zu sein, aber der Schatten sah Jack zumindest sehr ähnlich. Er prüfte sein Handy und las rasch die Informationen, die er inzwischen bekommen hatte. Dabei entging ihm der Transporter mit der British-Gas-Aufschrift, der auf der
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