Dunkle Ernte
von Clement Nbotou«, sagte Monsieur Blanc leise. Er war schon einmal hier gewesen, und wie damals überkam ihn das beklemmende Gefühl, an einem der schrecklichsten Orte der Erde zu sein.
»Hier stinkt’s zum Himmel«, erwiderte Gustav und hielt sich seinen Ärmel vor die Nase. Eine Mischung aus offener Latrine, Rauch und Körperausdünstungen schnürte ihm die Kehle zu.
Jack war es hinten im Wagen gelungen, sich in eine aufrechte Position zu wuchten. Ihm verursachte der Anblick ebenfalls Übelkeit, vor allem aber empfand er Trauer und Mitleid. Diese Kinder waren ebenso Gefangene wie er. Vielleicht noch mehr als er, denn er war fest entschlossen zu fliehen, während sie aussahen, als hätten sie sich in ihr Schicksal ergeben, weil sie ohnehin nirgendwo hinkonnten.
»Monsieur Blanc, mon très cher ami !« Clements tiefe Stimme dröhnte aus dem Hauseingang. »Ich hoffe, Ihre Reise war nicht allzu unbequem.« Er trabte die Treppen herunter auf sie zu. Auf seiner schwarzen Haut schimmerte ein Schweißfilm, und seine Augen überstrahlten sein Haifischgrinsen.
Gustav machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Mann war ein Riese, wesentlich größer und robuster als er. Nbotou beherrschte alles, was um ihn herum war, Menschen und Dschungel. Aber das lag nicht nur an seinem Körperbau, es war die geballte Energie, die er ausstrahlte, die schiere Aura seiner Persönlichkeit.
Nbotou beugte sich vor und umarmte Monsieur Blanc überschwänglich, ehe er Gustav die Hand schüttelte. Sein Griff war überraschend weich, fast zart. Ein Mann wie Clement Nbotou hatte es nicht nötig, sich zu behaupten, indem er anderen bei der Begrüßung die Hand zerquetschte.
»Was bringen Sie mir denn da mit, wie ein Hühnchen verschnürt auf dem Rücksitz?« Ein erstauntes Lächeln auf den Lippen, deutete er auf Jack.
Monsieur Blanc räusperte sich. »Hm, ja … das ist eine lange Geschichte. Kann ich Ihnen bei einer Flasche Whisky erzählen«, erwiderte er souverän und griff hinter sich, um eine Schachtel mit Single Malt hervorzuholen, die er Clement entgegenhielt.
Clements Augen hellten sich auf. »Laphraoig. Meine Lieblingsmarke! Im Kongo schwer aufzutreiben«, sagte er mit einem dunklen, bellenden Lachen und klopfte Monsieur Blanc auf den Rücken.
Zum ersten Mal wurde Jack bewusst, wie klein dieser Chinese war. Mit seinem beträchtlichen Leibesumfang wirkte er komisch, fast wie ein Clown, und das war ein klarer Vorteil für ihn: Die Leute, mit denen er Geschäfte machte, würden ihn mit Sicherheit nie als Bedrohung wahrnehmen.
Clement führte sie die Stufen hoch ins Haus. An der Tür angekommen, drehte er sich um. Sein Lächeln war erloschen, seine Miene kalt. Er zeigte auf die zwei Jungen, die sich an dem Affen zu schaffen machten, schrie ihnen etwas im Befehlston zu, deutete auf Jack und verschwand dann im Haus. Die Jungen ließen das Fleisch sofort fallen und rannten zu ihren Waffen, um sich rechts und links von ihm aufzustellen, wie Schulkinder, denen der Lehrer aufgetragen hatte, den Schulhof zu beaufsichtigen. Allerdings Schulkinder mit Waffen.
Jack kämpfte nach wie vor mit den Fesseln um seine Arme und Beine. Die beiden Jungen beobachteten ihn mit traurigen Augen. Einer von ihnen kaute auf einem Stück Rinde.
»Ich bin Jack«, stellte sich Jack lächelnd vor. »Freut mich, euch kennenzulernen.«
Die Jungen reagierten nicht. Jack streckte die Zunge heraus und verdrehte die Augen zu einem Schielen. Der jüngere der beiden lachte. Der andere sah ihn nur ernst an. Es war ein gewagter Versuch, aber die Kinder boten ihm wahrscheinlich noch am ehesten die Chance zur Flucht. Wenn er nur einen der beiden dazu bewegen könnte, seine Armfessel zu lösen. Er blickte blinzelnd in die Sonne. Aber er wäre ihnen auch schon dankbar, wenn sie ihn in den Schatten schieben würden. Die Hitze war unerträglich, seine Kehle trocken wie Schleifpapier. Er hatte seit dem Flug nichts mehr getrunken. Wie lange würde er im erbarmungslosen Gleißen der Sonne durchhalten?
Es verging eine Stunde, vielleicht waren es aber auch zwei oder drei, ehe Monsieur Blanc wieder aus der Villa kam. Die sengende Hitze, die Krämpfe in seinen Armen und Beinen und der stechende Schmerz in seiner Seite hatten für Jack jede Minute zu einer Ewigkeit anwachsen lassen. Er hatte versucht leise zu zählen, doch dann irgendwann wütend festgestellt, dass er nicht mehr wusste, wo er war. In seinem Hirn war die natürliche Ordnung der Dinge
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