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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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Lippen und stieß langsam die Luft aus. »Viktorianische Schauplätze«, meinte sie. »Victoria Park, Victoria House, das viktorianische Schwimmbad.«
    »Boss, dann haut aber doch die ganze Ripper-Geschichte trotzdem nicht hin.« Mit lauter Stimme wandte Anderson sich über mehrere Köpfe hinweg direkt an Joesbury. »Es sei denn, Sie wollen uns erzählen, dass das von Anfang an nur ein Riesenablenkungsmanöver war.«
    Joesbury sah abermals mich an. »Oh, das war ein bisschen mehr«, antwortete er. »Was meinen Sie, Flint?«
    »Wovon redest du eigentlich?«, wollte Tulloch wissen, während überall im Raum Blicke zwischen mir und Joesbury hin und her wanderten.
    »Gehen wir mal zu den ursprünglichen Morden zurück«, sagte er, und fast hätten wir beide allein im Raum sein können. »Wie kommt’s, dass in einer so dicht bevölkerten Gegend wie Whitechapel niemandem ein Mann aufgefallen ist, der von oben bis unten mit Blut beschmiert war? Nicht ein einziges Mal?«
    »Es war doch dunkel«, bemerkte irgendjemand.
    Joesbury wandte nicht einmal den Kopf. »Um genauer zu sein«, fuhr er fort, »wie kommt es, dass fünf erfahrene Prostituierte, die durchaus geübt im Umgang mit aggressiven Freiern sind, zulassen, dass ein Kerl mit einem Messer nahe genug an sie rankommt, um sie aufzuschlitzen?«
    »Sie mussten eben Risiken eingehen«, gab Mizon zu bedenken. »Wenn sie’s nicht getan haben, gab’s nichts zu essen.«
    »Kurz bevor Polly Nichols umgebracht wurde, gab es zwei brutale Morde in Whitechapel«, sagte Joesbury. »Hatten nichts mit Jack zu tun, aber ich wette, dass sich jede Nutte in der ganzen Stadt sehr in Acht genommen hat. Nach der Sache mit Polly, und erst recht nach der mit Annie, waren die bestimmt alle extrem nervös. Und doch hat er es geschafft, noch dreimal zuzuschlagen. Lautlos und unsichtbar. Sie sind unsere unumstrittene Ripper-Expertin, Flint. Wie hat er das gemacht?«
    »Was hat denn das mit Lacey zu tun?«, wollte Tulloch wissen. Sie trat ein wenig näher heran und musterte Joesbury stirnrunzelnd.
    »Gute Frage«, gab er zurück.
    Tulloch drehte sich wieder zu mir um, sah mein Gesicht und trat einen kleinen Schritt zurück.
    Joesbury hatte mich mit voller Absicht in die Ecke getrieben. Alle warteten darauf, dass ich etwas sagte, und mir blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu präsentieren, was ich bisher für mich behalten hatte. Meine persönliche Lieblingstheorie, wer Jack the Ripper gewesen war, so, wie ich sie vor all den Jahren meinen Mitschülern präsentiert hatte. Meine historische Lieblingsfigur? Natürlich Jack the Ripper, denn Jack hatte sich sein Geheimnis bewahrt, bis zum Ende.
    »Worauf DI Joesbury hinauswill«, setzte ich an und war verblüfft, wie ruhig meine Stimme klang, »ist, dass Jack the Ripper eine Frau war.«

62
    4. September, zehn Jahre früher
    Tye Hammond kommt langsam von einem Drogentrip runter, und dabei sitzt er gern auf Deck und sieht zu, wie die Lichter über den Fluss hüpfen. Irgendwie schaffen sie es immer, ihn zu beruhigen, den Übergang von Glückseligkeit zu der zermalmenden Wucht des wirklichen Lebens ein bisschen erträglicher zu machen.
    Während er den Niedergang des Hausboots hinaufsteigt, glaubt er, jemanden seinen Namen rufen zu hören. Als er das Ruderhaus erreicht, schaukelt das Boot abermals an seinen Tauen. Er ist nicht allein an Deck.
    »Was’n los?«, fragt er das blonde Mädchen achtern an der Backbordreling. Sie steht mit dem Rücken zu ihm, ihre Hände umklammern die Reling. Ihr Kopf zuckt herum und dann wieder zurück, zu schnell für einen Blickkontakt.
    »Die Bugleine ist gekappt«, ruft sie. »Die hier ist auch los. Ich kriege den Poller nicht zu fassen.«
    Es dauert einen Moment, bis ihre Worte zu ihm durchdringen. Dann sieht Tye, dass der Bug seines Bootes vom Anlegeplatz fortgeschwenkt ist. Die Strömung hat ihn erfasst und richtet ihn direkt stromabwärts. Nur die Leine am Heck hält sie jetzt noch am Ufer. Auf unsicheren Beinen stolpert er dorthin, wo Cathy noch immer den Arm nach dem Poller ausstreckt, an dem das Boot festgemacht war.
    Tye ist größer als Cathy. Er wirft sich gegen die Reling und beugt sich weit hinüber. Seine Finger streifen ganz kurz nur den kalten Stahl, dann ist das Boot auch schon zu weit abgetrieben. Die Leine liegt noch um den Poller, ist aber nicht belegt. Sie rutscht ab, nur ein winziges Stück nasses Tau verhindert, dass das Boot mit hoher Geschwindigkeit davonwirbelt. Er muss ans Ufer springen.

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