Dunkle Gebete
Cathy kann ihm das Tau zuwerfen, und er kann das Boot stoppen, ehe es zu viel Fahrt bekommt. Er hebt ein Bein über die Reling; Cathy packt seinen Knöchel. »Es ist zu weit«, stößt sie hervor. »Du fällst rein.«
Sie hat recht. Schon sind sie zwei Meter entfernt, drei. Aber sie müssen rein. Das Boot hat keinen Motor, es gibt keine Möglichkeit, zu steuern oder anzuhalten. Sie können doch nicht einfach so auf dem Fluss treiben, nachts, ohne das Boot kontrollieren zu können.
»Wir müssen ins Wasser springen«, sagt er und packt sie am Arm. »Zum Schwimmen sind wir noch nahe genug dran.«
Cathys Augen sind riesengroß und ganz blass vor Angst. »Die anderen«, stammelt sie und schaut zur Kajüte hinüber. »Jen und Al schlafen. Da unten sind vier Leute.«
»Ich hole sie«, beschließt er. »Spring du schon mal.«
Tye wendet Cathy den Rücken zu und strebt auf das Schott zu. Vier Leute. Er hat gedacht, es wären fünf. Jen und Al, Rob und Kit, und dieses neue Mädchen, das vor ein paar Tagen aufgekreuzt ist. Das sind fünf, mit ihm und Cathy sieben. Aber Cathy sprach von vier, und sie irrt sich nie. Er hört Cathy hinter sich aufschreien, fährt kurz herum und sieht sie das Deck entlang auf den Bug zueilen. »Es brennt«, ruft sie. »Das Boot brennt.«
Die Explosion schleudert ihn hoch in die Luft, brennt sich in seine Haut, saugt alle Luft aus seinem Körper. Als er auf dem Fluss aufschlägt, fühlt es sich an wie eine Erlösung.
Teil 4
Catharine
»Das Quälendste im East End ist die völlige Lähmung der Polizei. Allen ist das ein Rätsel.«
Daily News, 1. Oktober 1888
63
Mittwoch 3. Oktober
»Diese Theorie scheint vielleicht ein bisschen abgedreht, aber neu ist sie ganz sicher nicht«, sagte ich. »Der Inspector, der damals die Ermittlungen geleitet hat, ein Mann namens Frederick Abbeline, hat als Erster die Ansicht geäußert, dass der Ripper vielleicht gar kein Mann ist.«
»Mit welcher Begründung?«, wollte Joesbury wissen.
Ich blickte rasch zu ihm hinüber. »Das haben Sie doch gerade gehört. Als ganz London nach einem männlichen Verdächtigen Ausschau hielt, konnte Abbeline nicht begreifen, wie ein Mann in blutbefleckter Kleidung auf den Straßen herumlaufen konnte, ohne entdeckt zu werden.«
Auf den Gesichtern um mich herum zeigte sich eine Mischung aus Skepsis und Interesse. Ich beschloss, dass ich mich genauso gut hinsetzen könnte; so schnell kam ich hier nicht weg.
»Abbeline hat mit seinen Kollegen darüber gesprochen«, fuhr ich fort, während ich mich auf einen Schreibtisch hockte. »Sie haben die Theorie von der verrückten Hebamme entwickelt. In späteren Jahren wurde sie als die ›Jill the Ripper‹-Theorie bekannt.«
Ein paar schwache Geräusche, möglicherweise Gekicher.
»Weiter«, sagte Tulloch. Noch immer waren alle Augen auf mich gerichtet. Skeptisch oder nicht, alle wollten wissen, was ich zu sagen hatte.
»Sie haben sich gefragt, wer mitten in der Nacht aufstehen und das Haus verlassen kann, ohne dass die eigene Familie misstrauisch wird«, erklärte ich. »Wer keine Aufmerksamkeit erregen würde, wenn man ihn in den frühen Morgenstunden auf der Straße sieht.«
Ringsum begannen Köpfe zu nicken. Auf der anderen Seite des Raumes klingelte ein Telefon.
»Wer könnte sogar von oben bis unten voller Blut auftauchen, ohne dass jemand das ungewöhnlich fände?«, fuhr ich fort. »Die Antwort ist: eine Hebamme. Oder eine Engelmacherin. Eine ganze Menge Frauen war beides.«
»Eine Hebamme hätte die anatomischen Kenntnisse, um den Uterus zu finden, die Nieren und so weiter«, meinte Mizon. »Auf jeden Fall würde sie sich besser auskennen als ein Metzger.«
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Joesbury sich von dem Schreibtisch abstieß, auf dem er gesessen hatte, und zum Bildschirm hinüberging, auf dem die Aufnahmen der Überwachungskameras angesehen werden konnten. Das Telefon klingelte immer noch. Tulloch gab mit einer Geste zu verstehen, dass jemand abnehmen sollte.
»Das wurde damals auch vorgebracht«, sagte ich zu Mizon. »Ein weiteres Argument war, dass Prostituierte keine Angst vor einer Frau gehabt hätten, vor allem nicht vor einer, von der sie wissen, dass sie Hebamme ist. Das würde erklären, warum niemand einen Schrei oder einen Kampf gehört hat. Die Frauen haben erst Angst bekommen, als es zu spät war.«
»Und seinerzeit war es außerdem üblich, dass Hebammen den Schmerz der Gebärenden betäubten, indem sie sich verschiedener Druckpunkte
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