Dunkle Gebete
ins Holz getrieben hat. Fast lässt sie das Messer fallen, dann steckt sie es mit einer gewaltigen Anstrengung wieder in die Tasche.
Cathy ist nicht mehr da. Nichts wird sie jetzt wieder zurückbringen. Daran muss sie sich wohl oder übel gewöhnen.
Sie steht auf und geht nach Hause.
Teil 5
Mary
»… er lauert darauf, mit unfehlbarer
und erbarmungsloser Arglist zuzuschlagen …«
Star, 10. November 1888
76
Samstag, 10. Oktober
Als ich aufwachte, saß Joesbury noch immer in dem Sessel. Ich setzte mich auf, und er holte lange und tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Einen Augenblick lang schien er aufzuhören zu atmen. Dann hob und senkte sich seine Brust. Seine Wimpern zuckten und sanken dann wieder herab. Irgendwann in den ganz frühen Morgenstunden war mein Wächter eingeschlafen.
Ich stand auf und suchte mir etwas zum Anziehen. Nachdem die Dusche etwas von der Müdigkeit fortgespült hatte, trocknete ich mich ab, putzte mir die Zähne und zog mich an. Als ich aus dem Badezimmer kam, hörte ich jemanden in der Küche herumhantieren.
»Morgen.« Joesbury schaute von der Zeitung von gestern auf. Der Wasserkessel fing gerade an zu kochen.
»Gut geschlafen?«, fragte ich und bekam ein Grinsen als Antwort, das mir wohl das Herz gebrochen hätte, wäre es für derlei Unsinn nicht viel zu spät gewesen. Eins muss ich Joesbury lassen, er bewahrte sich seinen Sinn für Humor bis zum Ende.
»Alles klar für einen Ausflug?«, fragte er und reichte mir schwarzen Kaffee.
»Wohin?«, fragte ich.
»Nach Cardiff.«
Er quetschte sich an mir vorbei, und ich hörte, wie die Badezimmertür zuklappte und abgeschlossen wurde. Es war noch nicht ganz sechs Uhr, und wir konnten beide insgesamt nicht mehr als vier Stunden geschlafen haben; in seinem Fall die Hälfte davon in einem Sessel. Und jetzt dachte er, wir würden nach Cardiff fahren?
»Nichts für ungut, aber drei sind bei mir einer zu viel«, sagte ich, als er zehn Minuten später noch leicht feucht wieder zum Vorschein kam. »Gayle Mizon packt bestimmt gerade ihre Vorzeigeunterwäsche ein.«
»Also, Sie haben fünfzehn Minuten Zeit, Ihre einzupacken. Frühstücken können wir unterwegs.«
»Ich komme nicht mit nach Cardiff. Und ich habe keine Vorzeigeunterwäsche.«
Er gähnte und kratzte sich hinter dem Ohr. »Flint«, sagte er, »wir fahren in fünfzehn Minuten, mit meinem Wagen, und Sie können mit oder ohne Unterwäsche einsteigen, das liegt ganz bei Ihnen.«
»Ich will mit DI Tulloch sprechen«, verkündete ich.
Joesbury lehnte sich gegen den Küchentresen und versperrte mir so den Weg aus der Küche. »Erstens ist sie morgens immer richtig mies drauf, also würde ich mir das nicht antun. Zweitens fliegt Helen heute nach Dundee zurück. Sprich: Sie hat bestimmt extraschlechte Laune. Und drittens wird sie Ihnen auch nur das erzählen, was wir vor ein paar Stunden besprochen haben. Sie müssen eine Weile weg aus London. Das war gestern Nacht ein bisschen sehr knapp.«
Ich konnte jetzt nicht aus London weg. Und ich konnte ganz bestimmt nicht nach Cardiff fahren.
»Ich muss hier sein«, widersprach ich. »Llewellyn ist jetzt mit Nummer vier fertig, sie ist bestimmt startklar für Nummer fünf. Sie wird bald loslegen, und ich bin immer noch euer bester Köder. Es bringt doch nichts, wenn ich hinter Ihnen und Mizon herdackele.«
»Gayle kommt nicht mit«, erwiderte Joesbury. »Nur wir beide.«
»Und das soll irgendetwas ändern?«
Joesbury trank seinen Kaffee aus und spülte den Becher ab. »Wenn Sie jetzt eingeschnappt sind und nicht mehr mit mir reden wollen, soll’s mir nur recht sein«, meinte er. »Zehn Minuten.«
Acht Minuten später waren wir mit einem Soundtrack aus jenen House/Jazz/Funk-Rhythmen, ohne die Joesbury anscheinend nicht Auto fahren konnte, unterwegs zum Fluss. Auf der Vauxhall Bridge machte ich die Augen zu und tat so, als sei ich eingeschlafen. Wir hielten fünf Minuten lang vor einem großen weißen Haus in Pimlico, in dem Joesbury eine Wohnung hatte. Als wir Chiswick erreichten, riskierte ich einen verstohlenen Blick und sah einen rosigen Schimmer im Seitenspiegel. Die Sonne ging auf.
Als wir auf die M4 fuhren, drehte Joesbury die Musik lauter und gab Gas. Sehr viel Gas. In Anbetracht der Ereignisse von letzter Nacht schien mir das Risiko, dass er am Steuer einschlief und uns beide umbrachte, ziemlich groß zu sein.
Alles in allem konnte das hier durchaus ein schlimmeres Ende nehmen.
Also schloss ich die Augen
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