Dunkle Gebete
Daunendecke vor mir zusammenhielt.
Mir lief die Zeit davon. Ich wusste nicht, wie viel mir noch blieb. Ich wusste nicht, wie alles enden würde oder wann. Alles, was ich wusste, war, dass ich Mark Joesbury haben wollte – unmöglich, länger so zu tun, als sei es nicht so – und dass dies vielleicht meine letzte Chance war.
Zusammen gingen wir ins Schlafzimmer.
Ich glaube, er machte das Licht aus. Ich legte die Daunendecke aufs Bett und zog sie glatt. Dann kroch ich darunter, ohne mich auszuziehen. Ich wollte fühlen, wie seine Hände das taten. Er setzte sich auf die Bettkante und streifte die Schuhe ab.
Die Zimmer auf der Rückseite des Hauses sind so dunkel. Jetzt war er nicht viel mehr als ein Schatten, doch ich sah das Glitzern seiner Augen und hörte das Rascheln der Matratze und wusste, dass er sich zu mir umgedreht hatte. Einladend schlug ich die Decke zurück, hielt den Atem an und wartete darauf zu fühlen, wie sein Gewicht mich niederdrückte.
Stattdessen zog er die Daunendecke über mich, ehe er sich von mir fortlehnte, als sei er im Begriff, aufzustehen.
Also, so leicht gab ich nicht auf. Ich setzte mich auf und bekam seinen Arm zu fassen. Meine Nasenspitze streifte sein Gesicht, und ich fand seinen Mund. Ich nahm seine Unterlippe zwischen die Zähne und zog sanft daran. Dann tat ich dasselbe mit der Oberlippe. Ich zeichnete mit der Zungenspitze ganz zart den Umriss seines Mundes nach und pustete ganz leicht darüber. Er rührte sich nicht.
Ich hob die Hand zu seinem Gesicht, wollte ihn festhalten, während ich ihn lange und gründlich küsste. Er war schneller als ich und fing meine Hand mit der seinen ein.
»Nein«, flüsterte er. Dann stand er auf.
Ich hätte weitermachen können. Sanft streichelnde Finger, zarte Küsse an den richtigen Stellen. Letzten Endes war er doch nur ein Mann. Doch in jener Nacht lernte ich etwas. Wenn einem alles andere entgleitet, dann ist Stolz das eine, was man festhält. Ich drängte nicht. Stattdessen streckte ich mich wieder auf dem Bett aus und wartete auf den Morgen.
Ich rechnete nicht damit einzuschlafen, doch ich muss wohl geschlafen haben, denn irgendwann wachte ich auf und hörte jemanden atmen. Lautlos rollte ich mich herum. Joesbury saß im Sessel am Fußende des Bettes, den Kopf mir zugewandt, die Augen offen. Ich starrte ihn an, sein Gesicht, das gerade aus dem Dunkeln aufzutauchen begann, und er regte sich nicht.
Das war der Moment, als das, was ich schon eine Weile vermutet hatte, zur Gewissheit wurde, Mark Joesbury war nicht zu meinem Schutz hier. Er war hier, um andere zu beschützen. Vor mir.
Er dachte, ich wäre Victoria Llewellyn.
75
13. September, zehn Jahre früher
Victoria Llewellyn versucht mit aller Macht, Luft zu bekommen. Sie atmet ein und aus, schneller als normal, aber es bringt nichts. Es gelangt nicht genug Sauerstoff in ihr Gehirn, und wieder überkommt sie dieses schwindelige Gefühl, von der Wirklichkeit wegzutreiben. Das ist eine ganz häufige Trauerreaktion, das weiß sie, plötzliche Atemlosigkeit, aber womit sie nicht klarkommt, ist dieses Gefühl, dass die Welt davongleitet und sie zurücklässt, ganz allein.
Vornübergekrümmt sitzt sie da, den Kopf dicht über den Knien. Sie kann sich nicht daran erinnern, eine Bank auf dem Flusspfad gefunden zu haben, das Letzte, was sie noch weiß, ist, dass sie auf ein Hausboot gestoßen ist, genau wie das, auf dem Cathy gewohnt hat, und dann davongestolpert ist. Doch die Holzlatten unter ihr sind hart und feucht, und sie ist dankbar. Denn solange sie sitzt, wird sie nicht umfallen.
Sie werden immer häufiger, diese Phasen, wenn sie sich an nichts mehr erinnern kann. Wenn ihr Leben einfach weggewischt ist wie eine alte Rechenaufgabe von einer Schultafel.
Ein Pappbecher treibt an ihr vorbei flussabwärts, und sie versucht, nicht an Cathy und an diese anderen Kids zu denken, wie sie davongeschwemmt wurden und in die Tiefe sanken. Sie versucht, nicht an die Elfenbeinhaut und das verfilzte Haar des Mädchens zu denken, das sie vor ein paar Tagen identifiziert hat.
Cathy ist nicht mehr da.
Sie spürt, wie jemand vorbeihastet, und blickt auf, gerade noch rechtzeitig, um den argwöhnischen Blick zu sehen, die eiligen Schritte, und ihr wird klar, dass sie wieder das Messer in der Hand hält. Ihre Fingerknöchel sind weiß, die Finger beginnen zu schmerzen. Ohne es zu merken, hat sie in die hölzerne Bank unter ihr gehackt. Ein Dutzend Kerben oder mehr, wo sie die Klinge immer wieder
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