Dunkle Gebete
wieder und versuchte, nicht auf die beharrliche Stimme zu achten, die mir sagte, dass ich mich mit jedem Kilometer weiter von dort entfernte, wo ich eigentlich sein sollte. Es gelang mir, ruhig genug zu bleiben, dass mein vorgetäuschter Schlaf einigermaßen überzeugend wirkte. Irgendwann gewann die Erschöpfung die Oberhand über das Adrenalin, und aus der Täuschung wurde Wirklichkeit. Als ich aufwachte, hatte Joesbury gerade an einer Raststätte angehalten.
»Wo sind wir?«, fragte ich, als er den Motor ausschaltete. Die Musik verstummte.
»Membury«, antwortete er. »Hunger?«
Überraschenderweise war ich tatsächlich hungrig. Wir bestellten beide ein üppiges Frühstück und setzten uns an einen Tisch am Fenster. Ich schaffte ungefähr den halben Teller, bevor mein Magen wieder anfing, sich zusammenzukrampfen. Wenn ich Joesbury jetzt einfach hier sitzen ließ, wie groß war die Chance, eine Mitfahrgelegenheit zurück nach London zu finden?
»Also, fragen Sie jetzt, warum wir nach Cardiff fahren, oder nicht?«, erkundigte sich Joesbury, während ich mich auf den extrem starken Tee konzentrierte.
Ich wusste ganz genau, warum wir nach Cardiff fuhren. Joesbury wollte mich den Leuten vorführen, die Victoria Llewellyn gekannt hatten, in der Hoffnung, dass einer von ihnen mich wiedererkannte.
»Wieso fahren wir nach Cardiff?«, fragte ich.
»Als Erstes reden wir mit Sergeant Ron Williams«, erklärte er. »Er war damals für den Fall zuständig. Vielleicht kann er uns etwas über die beiden Mädchen sagen. Oder er kann uns ein bisschen genauer erzählen, was eigentlich passiert ist. Mehr als die Jungen oder ihre Väter es jemals tun werden. Essen Sie das noch?«
»Bedienen Sie sich.« Ich schob meinen Teller über den Tisch.
»Dann treffen wir uns mit einer Frau namens Muffin Thomas«, fuhr Joesbury zwischen einzelnen Bissen fort. »Sie hat eine Weile neben den Mädchen gewohnt, ein paar Jahre vor der Vergewaltigung. Wohnt jetzt in einem Kaff, das Splatt oder Splott heißt oder so ähnlich.«
»Muffin ist ja auch ein sehr häufiger walisischer Vorname«, bemerkte ich.
Joesbury griff in die Tasche und zog ein Notizbuch heraus. Er schlug es auf und drehte es herum, so dass ich darin lesen konnte.
»Myfanwy«, entzifferte ich sein Gekritzel.
»Bitte?«
»Maff-en-wi«, wiederholte ich.
»Sprechen Sie etwa Walisisch?«
»Nein. Wieso sollte ich?«
»War nur so ein Gedanke. Was dagegen, wenn Sie jetzt fahren? Ich bin fix und fertig.«
Joesburys Wagen fuhr sich viel leichter als mein Golf. In einem kleinen Fach neben dem Schaltknüppel fand ich eine Black Eyed Peas- CD und legte sie ein. Unter deutlich anderen Umständen hätte ich die Fahrt vielleicht tatsächlich genossen.
Als wir in South Wales ankamen, kroch Herbstnebel langsam auf den Rand der Autobahn zu. Dornröschen erwachte kurz vor Newport und verbrachte die nächsten zwanzig Minuten damit, mit Tulloch zu telefonieren.
»Das in Ihrem Schuppen war definitiv Karen Curtis’ Kopf, keinerlei forensische Spuren im Schuppen oder im Garten, die uns weiterhelfen könnten, und Jacqui Groves ist immer noch quicklebendig und wird streng bewacht«, fasste er nach dem Gespräch zusammen. »Tully wünscht uns eine gute Reise und sagt, ich soll mich ja benehmen.«
»Bisher wäre sie stolz auf Sie«, knurrte ich, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Joesbury in sich hineinlächelte.
Auf dem Weg ins Stadtzentrum von Cardiff herrschte dichter Verkehr, und es war fast Mittag, als ich auf dem Parkplatz von Sophia Gardens hielt. Joesbury sprang aus dem Auto und ging zum Parkscheinautomaten. Nieselregen lag in der Luft, und dichter Nebel wallte vom Taff herüber.
»Zum Polizeirevier?«, fragte ich, als Joesbury zurückkam.
Er schüttelte den Kopf und klappte den Jackenkragen hoch. »Nein«, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf die Fußgängerüberführung. »Wir gehen ein bisschen spazieren.«
Der Bute Park ist lang und schmal. Er erstreckt sich vom Zentrum Cardiffs mehrere Kilometer weit bis über die Stadtgrenze hinaus. Nachdem wir die Fußgängerbrücke hinter uns hatten, machten wir uns daran, ihn auf kürzestem Weg zu durchqueren. Nach ein paar Minuten nahmen die Umrisse moderner Gebäude an einer nahe gelegenen Straße langsam Gestalt an. Ein Wasserlauf, vielleicht ein Nebenarm des Taff, vielleicht auch ein Entwässerungsgraben, zog sich am äußersten Rand des Parks entlang. Als wir ihn erreichten, wandte
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