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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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dass er aussah wie ein Mensch. Mit Handschuhen gab ich mich nur selten ab.
    Ich drosch auf den Sandsack ein, so fest ich konnte; so fest, dass ein gellender Schmerz durch meine geprellte Schulter fuhr. Ohne darauf zu achten, schlug ich wieder zu, und wieder, bis ich so erschöpft war, dass ich das Gleichgewicht verlor und umfiel. Ich versetzte dem Sandsack einen letzten Tritt und überlegte, ob es mir wohl dieses eine Mal gelänge, aus vollem Hals loszuschreien. Stattdessen schloss ich die Augen.
    Ich kann mich nie an meine Träume erinnern. Am nächsten Morgen habe ich keine Ahnung, was in den dunklen Stunden in meinem Kopf los war, und doch weiß ich immer, wenn ich schlecht geträumt habe. In jener Nacht mussten meine Träume besonders schlimm gewesen sein, denn ich erwachte kaum eine Stunde, nachdem ich eingeschlafen war, und stellte fest, dass ich schweißgebadet war und kaum Luft bekam. Hastig krabbelte ich rückwärts, bis ich gegen die Schuppentür stieß, und fand mich hellwach im Garten wieder.
    Wach oder nicht, der Traum schien nicht weichen zu wollen. Ich konnte blassblaue Augen sehen, die Augen der Toten, die in meine starrten; etwas wie Wut lag darin. Nein, das stimmte nicht, die Augen waren starr vor Entsetzen gewesen. Nur dass es jetzt mein Entsetzen war. Und die Augen kamen die ganze Zeit näher …
    Die kühle Nachtluft linderte die Hitze ein wenig. Mir fehlte nichts, das waren nur Nachwirkungen des Schocks. Bloß ein Traum, der erste seit sehr langer Zeit. Ich stolperte durch den Garten und blieb dann stehen.
    Von irgendwoher ganz in der Nähe war Musik zu vernehmen, möglicherweise aus dem Park. Doch es war nicht der dröhnende, pulsierende Lärm, den ich nachts für gewöhnlich zu hören bekam. Dies war eine richtige Melodie, die sanft und leicht über die Dächer schwebte. Julie Andrews, aus The Sound of Music, das Lied, das sie singt, um die Kinder zu beruhigen, die sich vor dem Gewitter fürchten. »Raindrops and Roses«, so beginnt es. My Favorite Things.
    Als Kind war ich von The Sound of Music völlig hingerissen gewesen. Dieses Lied hatte ich ganz besonders geliebt und selbst Listen von den Dingen gemacht, die ich am liebsten mochte. Wenn das Leben vollkommen beschissen war (was regelmäßig vorkam, als ich klein war), hatte ich dieses Spiel gespielt und mich ein bisschen besser gefühlt. Doch das war alles so lange her.
    Ich machte noch einen Schritt auf das Haus zu.
    Die Musik spielte immer noch, leise und lieblich, und durch die Klänge konnte ich auf der anderen Seite der Gartenmauer ein Scharren hören. Rasch warf ich einen Blick auf die Seitentür, die auf die kleine Seitengasse hinausführte. Der Riegel war vorgeschoben. Wieder rührte sich etwas, etwas streifte die Mauer. Normalerweise würde ich mich nicht als furchtsamen Menschen bezeichnen, doch ich verspürte ein plötzliches Bedürfnis, mich in die Wohnung zu verziehen.
    Ich hastete durch den Garten und trat durch den Wintergarten ins Haus. Dann überprüfte ich die Schlösser sorgfältiger, als ich es sonst tue. Wahrscheinlich war das Ganze bloß einer dieser komischen Zufälle, doch als ich eine Decke aus dem Schrank zerrte und mich auf dem Sofa zusammenrollte, wunderte ich mich doch unwillkürlich, dass ausgerechnet heute jemand beschließen sollte, My Favorite Things zu spielen.
    Ich erwachte davon, dass mein Telefon klingelte. Es war der diensthabende Sergeant vom Polizeirevier Southwark. Ich hatte Anweisung gegeben, dass man mich ausfindig machen sollte, wenn eine ganz bestimmte Person nach mir fragte. Diese Person wartete jetzt auf dem Revier auf mich. Also würde ich zur Arbeit gehen, freier Tag hin oder her.

9
    Samstag, 1. September
    »Sie warn zu dritt. Zuerst warn sie zu dritt. Dann sind noch mehr gekommen.«
    Ich saß ganz still auf der Holzbank, wollte nichts tun, was sie ablenken könnte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mir Notizen zu machen, doch das hatte sie mir nicht gestattet. Sie hatte mir auch nicht erlaubt, das kleine Aufnahmegerät einzuschalten, das ich mitgebracht hatte. Sie würde keine Aussage machen, hatte sie mehrmals wiederholt, bis sie ganz sicher sei, dass ich verstand. Sie war nicht einmal bereit gewesen, auf dem Revier zu bleiben. Also waren wir hinausgegangen und zum Fluss hinunterspaziert, dorthin, wo Shakespeares Globe Theatre am Südufer nachgebaut worden war.
    Rona Dawson war fünfzehn Jahre alt, rundlich, mit strahlender Haut und geflochtenem Haar. Augen wie Bitterschokolade. Sie war

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