Dunkle Gebete
unterwegs ist, wo ist dann der andere?«
»Verreist«, antwortete Stenning. »Sollte in ein paar Tagen zurückkommen, gerade rechtzeitig, bevor die Uni wieder losgeht.«
Joesbury kam auf uns zu. Himmel, Arsch und Wolkenbruch.
»’n Abend, Flint«, sagte er, als er die Bar erreichte und weiter ging, als nötig gewesen wäre, um neben mir stehen zu bleiben. »Was darf’s denn sein für euch beide?«
Zwei Stunden später hatte ich den Besuch von Emma Boston noch immer nicht zur Sprache gebracht. Einerseits wusste ich, dass ich das unbedingt tun musste. Andererseits war der ranghöchste Beamte hier Joesbury, und es widerstrebte mir sehr, ihm mit wilden und grandiosen Theorien zu Serienmördern des 19. Jahrhunderts zu kommen, bevor ich mir meiner Fakten ein bisschen sicherer war. Wenn er die Idee nicht von vornherein abtat, würde er Details wissen wollen, die ich nach all der Zeit nicht zu bieten hatte. Ich glaube, ich war gerade dabei, meinen Mut zusammenzukratzen und etwas zu sagen, als er einen Anruf von Tulloch bekam und verschwand. Nicht lange danach löste die Gruppe sich auf.
Erschwerend war hinzugekommen, dass alle anderen anscheinend gefunden hatten, er sei das Beste seit der Erfindung des Eierschneiders. Den größten Teil des Abends hatte er die Gruppe nämlich mit Geschichten von seiner Undercover-Arbeit unterhalten.
»Ich sitze da also in diesem Polizeibus«, hatte er irgendwann erzählt, »bin gerade zusammen mit einem Haufen Tottenham-Fans einkassiert worden und sehe da ein Megafon auf dem Boden liegen. Also heb ich’s auf und fang an, aus dem Fenster zu grölen, und was glaubt ihr, was die alle zu mir sagen? ›Halt doch die Klappe, deinetwegen kriegen wir noch Ärger!‹«
Die anderen hatten sich vor Lachen gar nicht mehr eingekriegt. Ich hatte mir ein höfliches Lächeln abgerungen, als ich merkte, dass Joesbury mich ansah, und hatte von Neuem Gewissensbisse verspürt. Das hier war ein Mordfall. Ich besaß Informationen, die möglicherweise wichtig waren.
Nachdem Stenning, der darauf bestanden hatte, mich nach Hause zu fahren, mit röhrendem Motor davongebraust war, eilte ich die Stufen zu meiner Wohnung hinunter. Ein kurzer Blick unter die Treppe, und dann nichts wie hinein. Das ordentlich gemachte Bett, das ich durch die offene Schlafzimmertür sehen konnte, hatte nie einladender ausgesehen, aber es würde warten müssen. Stattdessen zog ich das Rollo herunter, klappte meinen Laptop auf, tippte Jack the Ripper in die Suchmaschine …
… und wurde wieder zu jenem Teenager von damals, den Kopf vollgestopft mit Informationen über die Whitechapel-Morde des späten 19. Jahrhunderts.
1888, ein Jahr, nachdem Queen Victoria ihr fünfzigjähriges Thronjubiläum gefeiert hatte, trieb ein Serienmörder, der als Jack the Ripper bekannt wurde, in Whitechapel und Spitalfields sein Unwesen und stellte jenen nach, die sich am wenigsten schützen konnten. Jacks Opfer waren die »Bedauernswerten«, wenn man viktorianischer Zeitgenosse und von höflicher Wesensart war. War man das nicht – war man zum Beispiel Jack selbst –, so waren es Huren. Nicht mehr ganz junge, obdachlose, trunksüchtige Huren, die ihren Körper mehrmals pro Nacht für ein Glas Gin an Fremde verkauften.
Alles in allem gab es elf Whitechapel-Morde. Sie begannen im April 1888 und endeten im Februar 1891. Die letzten paar Monate des Jahres 1888, in denen sich die meisten dieser Verbrechen ereigneten, wurden als »Herbst des Schreckens« bekannt. Früher einmal hätte ich die Namen und Todesdaten der Opfer auswendig hersagen können, die jeweiligen Verletzungen, die ihnen zugefügt worden waren, und die Fundorte der Leichen. Mitten in der Nacht, um zehn vor eins, schloss ich die Augen und stellte fest, dass ich es immer noch konnte.
Jack war als Mörder seiner Zeit voraus gewesen, begriff ich in jener Nacht, als ich den Fall mit erwachsenen, professionellen Augen von Neuem betrachtete. Im 19. Jahrhundert war jemand, der wahllos und ohne Motiv zuschlug, etwas ganz Neues. Die Polizei war damals fast völlig hilflos gewesen.
Eines, das mir schon als Teenager aufgefallen war, blieb gleich. Der verwirrendste und beängstigendste Aspekt der Morde war Jacks Fähigkeit gewesen, aus dem Nichts aufzutauchen und spurlos zu verschwinden. Viele der Morde ereigneten sich ganz in der Nähe von überfüllten Herbergen oder großen Straßen, doch er war lautlos und unsichtbar unterwegs.
Dann, ebenso plötzlich wie sie begonnen hatten, hörten die
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