Dunkle Gebete
ohne eine Sekunde zu zögern, und die ganze Klasse hatte sich halb totgelacht. Die Lehrerin hatte zweimal geblinzelt und mich dann mit mehr Courage als gewöhnlich aufgefordert zu erklären, wieso. Also hatte ich es getan. Ich schilderte ihr und den Schülern die Arroganz und das Elend im viktorianischen London und erzählte von einem Mörder, der unsere Denkweise über das Böse im Menschen verändert hatte. Ich berichtete von der Furcht, die sich im East End ausbreitete wie erbsensuppendichter Nebel, und von der Schadenfreude, die aufkam, als die Leute die Hilflosigkeit der Polizei sahen.
Und ich gab meine eigene Theorie über Jack zum Besten. Dass, wenn ich recht hatte, mehr als ein Jahrhundert später der Mörder (oder der Geist des Mörders) uns wahrscheinlich noch immer auslachte.
All das hatte ich bis zu diesem Moment aus meinem Kopf gelöscht. Ich hatte ganz ehrlich vergessen, dass ich früher einmal Jack the Ripper als meine liebste historische Figur bezeichnet hatte. Und jetzt hatte ein Brief, unterschrieben mit einem seiner Pseudonyme, mich mit dem Mord von Freitagabend in Verbindung gebracht.
17
Ich betrat das Nag’s Head und fand Stenning und ein paar andere vom MIT an einem Spielautomaten vor. Unter ihnen erkannte ich Tom Barrett, den DC , der sich mit mir vorhin etliche Stunden lang die Aufnahmen der Überwachungskameras angeschaut hatte. Stenning sah mich und kam zu mir herüber, wobei er beinahe einen Tisch voller Gläser umkippte.
»Scheiße, Flint«, meinte er, als er nahe genug war. »Was haben Sie denn mit sich angestellt?«
Männer! Ich trug das Haar offen, hatte ein bisschen Make-up aufgelegt und Jeans und ein Top angezogen, die mir richtig passten. Tatsächlich hatte ich nur sehr wenig mit mir angestellt, aber ich hatte als Teenager gelernt, wie winzig der Unterschied sein kann zwischen einer Frau, die niemandem auffällt, und einer, die jeder bemerkt. Meistens ziehe ich es vor, unsichtbar zu sein, besonders bei der Arbeit. Unauffällige Klamotten, eine Nummer zu groß. Kein Make-up, eine dicke Brille, die ich eigentlich gar nicht brauche, das Haar streng zurückgekämmt. Ich halte den Mund, wenn ich nichts zu sagen habe, und hätte wetten können, dass die meisten Leute im Revier von Southwark vor dieser Mordgeschichte keine Ahnung gehabt hatten, wer ich war. Wenn ich abends ausgehe, sehe ich ganz anders aus.
Normalerweise hätte ich mir für ein Treffen mit Kollegen überhaupt keine Mühe gemacht. Verdammt, normalerweise hätte ich mich überhaupt nicht außerhalb des Dienstes mit Kollegen getroffen. Aber ich hatte mich vorhin für einen Abend auf der Piste umgezogen, und nach Emmas Besuch und dieser ganzen Jackthe-Ripper-Nummer war ich zu aufgedreht gewesen, um noch länger zu Hause zu hocken.
»Sind Sie gerade erst aus Chiswick zurückgekommen?«, fragte ich, als wir uns an der Bar niedergelassen hatten. »War das Opfer ganz sicher Geraldine Jones?«
»Offiziell ist die Identität noch nicht bestätigt«, erwiderte er.
»Und inoffiziell?«
»Inoffiziell gab es Fotos in dem Haus«, sagte er. »Sie ist es. Und das Au-pair-Mädchen sagt, sie hätte Geraldine Jones seit Freitagmorgen nicht mehr gesehen. Sie hat gedacht, vielleicht hat sie es sich anders überlegt und ist mit Mr. Jones und seinem ältesten Sohn weggefahren. Die sind übers Wochenende in der Nähe von Bath, zum Golfspielen. Oder zumindest waren sie da. Sollten inzwischen wieder da sein. DI Tulloch ist geblieben, um mit dem Ehemann zu reden, wenn sie ankommen.«
»Und ihn die Leiche identifizieren zu lassen?«
Stenning nickte.
»Haben wir eine Ahnung, was sie in dieser Ecke von London gesucht hat?«, erkundigte ich mich, gerade als sich die Tür des Pubs öffnete und eine vertraute, hochgewachsene Gestalt hereinkam. Scheiße.
»Wir haben das Haus oberflächlich durchsucht«, berichtete Stenning. »Das Au-pair-Mädchen konnte uns nicht viel sagen, die schien ziemlich von der Rolle zu sein, weil so viele Polizisten im Haus waren. Aber wir konnten nichts Ungewöhnliches entdecken. Keine Plastikbeutel mit Kokain im Spülkasten. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine vollkommen normale Londoner Familie aus der oberen Mittelschicht zu handeln. Er ist irgendwas Gehobenes bei einer Versicherungsgesellschaft, sie hat stundenweise in einer Galerie gearbeitet. Zwei Söhne, der eine Assistenzarzt, der andere an der Uni.«
»Was ist mit dem jüngeren Sohn?«, wollte ich wissen. »Wenn der ältere mit seinem Dad
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