Dunkle Gier: Roman (German Edition)
Abscheulichkeit des Untoten nicht, ein wahrer Meister jedoch war so geschickt im Erzeugen von Illusionen, dass sich für kurze Zeit sogar Mutter Erde täuschen ließ.
Kein einziges Blatt oder Grashälmchen verdorrte. Der Mann war breitschultrig und von beeindruckender Größe, und er bewegte sich mit absolutem Selbstvertrauen. Als er in das Gehölz trat, wo das Baumkronendach den Waldboden schützte, schlug er die Kapuze zurück. Sein wallendes langes Haar war schwarz wie die Nacht, sein Gesicht jung und geradezu unerhört gut aussehend. Er lächelte und streckte die Hand nach Zacarias aus. »Mein Sohn. Ich hoffe, wir begegnen uns unter erfreulicheren Umständen wieder.«
Zacarias runzelte die Stirn. Was war Ruslans Spiel? Wollte er ihn auf die Probe stellen, um zu sehen, ob er Emotionen hatte? Ob er seine Seelengefährtin gefunden hatte? Alle anderen Brüder de la Cruz hatten eine Gefährtin. Ruslan hasste sie dafür vermutlich nur noch mehr. Er glaubte sich ihnen allen überlegen – warum also sollte nicht er die Frauen haben? Zacarias und seine Familie verdienten diese Gunst des Schicksals seiner Meinung nach nicht.
»Ich hätte dir mehr zugetraut, Ruslan, als solch einen müden Trick. Also lass dich sehen, und bringen wir es hinter uns!« Zum ersten Mal erkannte Zacarias, dass sein Mangel an Gefühl in Marguaritas Abwesenheit mehr sein konnte als ein Fluch. Schließlich konnte Ruslan nichts gefährden, wovon er nichts wusste.
Zacarias schwenkte mit echter Gelassenheit die Hand, als störte ihn dieses perfekte Abbild seines Vaters überhaupt nicht – und er empfand auch wirklich nichts beim Anblick des Mannes, der der Held seiner Kindheit gewesen war. Die lässige Handbewegung löste die Illusion auf und offenbarte Ruslans wahres Aussehen. Für eine Sekunde stand er in seiner ganzen Scheußlichkeit da: Jeder Attraktivität beraubt, war sein Körper verrottet von tausend Würmern, die durch ihn hindurchkrochen. Offene Stellen überzogen sein Gesicht, seine Augen waren eingesunken und seine Zähne, die spitz wie Eiszapfen durch seinen Gaumen stachen, schwarz und abgenutzt.
Im Bruchteil einer Sekunde wechselte dieses Bild jedoch, als wäre es nie da gewesen, und Ruslan stand vor Zacarias, wie er damals, vor all diesen Jahrhunderten, ausgesehen hatte. Jung, viril und mit einem Gesicht, das faltenlos und mehr schön als gut aussehend war. Im Vergleich zu ihm wirkte Zacarias viel mitgenommener und älter, da seine Stirn und seine Wangen von tiefen Linien geprägt waren und auch die eine oder andere Narben aufwiesen.
»Wie ich sehe, hat sich nichts an deiner Eitelkeit geändert«, bemerkte Zacarias zur Begrüßung. »Ich weiß noch, wie sehr du dein hübsches Gesicht liebtest. Wahrscheinlich war das zum Teil der Grund, warum du dich dazu entschiedst, Vampir zu werden.«
Ruslan strich das lange schwarze Haar zurück. »Zumindest kannst du noch hübsch von hässlich unterscheiden. Ich habe dich lange im Auge behalten, alter Freund. Du lehnst es ab, dich uns anzuschließen, und weigerst dich zu sterben. In all den Jahrhunderten bist du nie länger an einem Ort geblieben als eine Nacht oder höchstens zwei. Aber jetzt bleibst du auf einmal hier.« Er schwenkte den Arm in Richtung Hazienda. Sogleich wechselte der Wind die Richtung und nahm Dutzende kleiner Feuerbälle mit, um sie auf Weiden und Gebäude herabregnen zu lassen.
Zacarias sandte eine wahre Sintflut von Regen hinterher, der die kleinen Feuer augenblicklich löschte. Dann ließ er die Schultern rollen, die bis auf die Knochen schmerzten von den tausend kleinen Brandwunden des ätzenden Regens und der kieselsteingroßen Feuerbälle, die Ruslan jetzt gegen die Ranch einsetzte.
»Wir können die ganze Nacht so weitermachen, aber du glaubst doch wohl nicht, mich mit solch kindischen Spielchen beeindrucken zu können? Die spiele ich mit deinen Marionetten, die meine Aufmerksamkeit im Grunde gar nicht wert sind. Ich dachte, in dir würde ich endlich mal einen würdigen Gegner haben.«
»Du heilst deine Wunden ja gar nicht.«
War da ein Anflug von Eifer in Ruslans Ton gewesen? Zacarias zuckte erneut die Schultern. »Ich spüre solche Kleinigkeiten nicht, wozu also?« Er beobachtete Ruslan scharf und sah, wie der Vampir sich wiederholt die Lippen leckte. Ruslans Nasenflügel bebten. »Oder stört dich etwa der Geruch meines Blutes?«
Der Meistervampir schüttelte den Kopf. Einmal. Zweimal … Wie ein Zucken fast, das er nicht verhindern konnte. Genauso
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