Dunkle Häfen - Band 2
Mutter dabei gewesen war, hatte man sie bestaunt, während die Kinder die kleine Herrin beäugten, die kleine Fee, die oft durch die Wiesen streifte, nur in Begleitung des betagten Stallknechts. Damals war das Dorf größer gewesen. Und natürlich kannten die Leute sie nicht mehr. Vielleicht waren unter den ganz Alten noch einige der Kinder von damals. Ramis wollte nun weiter und gab dem Kutscher einen Wink. Gerne hätte sie mit den Leuten geredet, aber sie erinnerte sich an kein einziges Wort ihrer irisch-gälischen Muttersprache. Ein Stechen in ihrer Brust machte Ramis deutlich, wie wenig Zeit sie noch hatte. Sie passierten die Dorfkirche, in die Ramis Familie sonntags immer zum Gottesdienst gegangen war. Damals war Ramis katholisch gewesen, später hatte man sie protestantisch erzogen. Eigentlich machte es keinen Unterschied, am wenigsten für sie. Es war so unsinnig, so dumm , deswegen zu kämpfen. So viele Menschen mussten sterben, nur weil man sie mit zerstörerischen Phrasen fütterte und ihnen Feindbilder lieferte. Die strenggläubigen Leute hier würden das nicht verstehen, aber Ramis hatte viel mehr gesehen als sie. Ihr Onkel kam ihr den Sinn, der manchmal zu Besuch angereist war. Er hatte ihrem Vater geähnelt, war jedoch kräftiger gebaut und weniger dunkel, feenhaft. Ramis hatte die Geschichten ihrer Amme über die Fabelwesen lange geglaubt. Bei ihrem Onkel waren auch seine Frau und deren Kinder, die man später alle getötet hatte. Als er sich verabschiedete, legte er ihr einmal die Hand auf die Schulter und sagte:
"Dein Vater kann wirklich stolz auf dich sein. Du bist eine wahre kleine Irin. Eines Tages wirst du vielleicht auch frei sein."
Diese Irin hatte lange vergessen, dass sie eine war und kehrte erst jetzt zurück. In der Ferne tauchten nun auf einem kleinen Hügel die Umrisse einer Burg auf. Ihr Atem stockte. Die Burg. Ihre Burg. Als sie näher kamen, sah Ramis, dass das Gebäude verfallen war. Offenbar war es unbewohnt, seit ihre Familie geflohen war. Die Fenster waren zersprungen und viele Mauersteine heruntergefallen. Auf einer Seite war das Dach eingestürzt, weil das Mauerwerk, das es stützte, weggebrochen war. Die Gärten waren verwildert und Efeu umrankte die Mauern. Ramis wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber dieser Verfall berührte sie tief. Es war ein Zeichen für die lange Zeit und das machte ihr erst klar, dass das kein Traum war. Dennoch wirkte ihr Heim, nach dem sie sich immer gesehnt hatte, verwunschen. Ein neuerlicher Schmerz packte sie wie ein Krampf. Es war das Herz, das noch älter und müder war als sie. Charlotte fasste sie eilig unter den Armen.
"Madame Mère, habt Ihr Eure Medizin auch genommen? Ich habe sie dabei, falls nicht."
Sie wirkt schon lange nicht mehr, Charlotte. Sie kann keine Unsterblichkeit verleihen.
Aber sie nickte. Als der Schmerz nachgelassen hatte, teilte sie mit:
"Ich möchte in die Burg hinein." Dafür erfasste sie nun Schwindel.
"Da rein?" Das war Edward. "Es könnte einstürzen. Das ist wirklich unvernünftig!"
Nur William schwieg und machte keine Vorwürfe. Er verstand, wie wichtig es für sie war.
"Ich muss!" , beharrte sie und schließlich gaben auch die anderen nach.
Sie brachten Ramis zum Haus. Die Tür war zwar verschlossen, aber von der Witterung so verrostet, dass sie fast von alleine aus den Angeln brach. Von drinnen drang sofort ein schimmeliger Geruch heraus. Es war dunkel, nur durch den Spalt der Tür fiel ein Strahl Licht herein, das sich in einigen großen Spinnennetzen verfing. Wie konnten die Insekten in dieser Dunkelheit leben? William rief dem Kutscher zu, er solle eine Laterne bringen. Erst dann betraten sie das Haus. Eine steinerne Treppe mit den glitschigen Stufen führte links nach oben, rechts war eine Tür, die zur Küche und den Gesindestuben führte. Dies war ein Nebeneingang, aus dem der Küchenjunge immer den Abfall herausgetragen hatte. Sie gingen vorsichtig nach oben, jede Stufe sorgfältig prüfend. Oben war es fast noch so, wie Ramis es verlassen hatte. Es hatte kaum Plünderungen gegeben, nur die wertvollsten Gegenstände wie goldene Kerzenleuchter und Kunstgegenstände waren verschwunden, der Rest stand noch da. Alte Kommoden, aufgequollen von der Feuchtigkeit, blinde Spiegel, in denen man sich nicht mehr sehen konnte. Und eine Menge von Sesseln, Tischen, Lieblingsplätzen. Die Hallen und Zimmer waren in einem trostlosen Zustand, der Boden mit Putz und Dreck bedeckt. Im Esszimmer hingen die Überreste
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