Dunkle Halunken: Roman (German Edition)
ist, Sir. Wie leicht fallen sie doch einem schneidigen Herrn mit ein bisschen Geld zum Opfer. Ach, hätte sie doch nur auf mich gehört! Ich mache mir für immer und ewig Vorwürfe.« Und: »Ich meine, auf dem Land ist es anders als in der Stadt, weiß Gott. Ich meine, wenn ein Junge und ein Mädchen sich näherkommen und wenn sie einen Bauch kriegt, dann spricht ihre Mama ein Wörtchen mit ihr, nicht wahr? Und dann spricht ihre Mama auch mit ihrem Papa, und der Papa spricht in der Schenke mit seinem Papa, und alle seufzen und sagen: ›Ach, na ja, wenigstens zeigt sich, dass sie Kinder kriegen können.‹« Der Alten zufolge würden sich die jungen Leute dann bald an den Priester wenden, und so käme alles in Ordnung.
Der Coroner, nicht nur ein Mann von dieser Welt, sondern in gewisser Weise auch von der nächsten, bezweifelte, dass es so einfach war, aber darauf wies er nicht hin. Schließlich erzählte die Alte, wie das junge Mädchen aus dem Haus gelaufen war und dass sie überall nach ihr gesucht hatte, bei jeder Brücke. An dieser Stelle nickte der Coroner kummervoll, denn es war immer wieder die gleiche tragische Geschichte. Er wusste, dass des Nachts Angehörige des christlichen Diensts unterwegs waren und auf Londons Brücken nach diesen unglücklichen beschmutzten Tauben Ausschau hielten. Meistens erhielten die jungen Dinger eine Broschüre und wurden aufgefordert, nicht zu springen. Manchmal gelang das sogar, aber anschließend kam das Armenhaus, und nach der Geburt sah die arme Mutter ihr armes Kind meist nie wieder.
Man musste sich eine Haut so dick wie die eines Nashorns zulegen, wenn man täglich mit derlei Angelegenheiten zu tun bekam, und zu seinem Leidwesen brachte es der Coroner nicht fertig, alles an sich abprallen zu lassen. Bedrückt hörte er zu, während die Alte weiterhin über ihre Nichte sprach. Zwischen häufigem Schluchzen brachte sie hervor: »Ein blaues Kleid, Sir, nicht sehr neu, aber mit hübscher Unterwäsche, Sir, konnte sehr gut mit Nadel und Faden umgehen, konnte sie … Schmuck gab es keinen, nur einen eisernen Ring, angefertigt aus einem Hufnagel, aber es ist ein Ring, verstehen Sie, und ein Ring ist ein Ring, Sir. Dies ist vielleicht wichtig, Sir: Sie hatte blondes Haar, herrlich blondes Haar. Hat’s nie geschnitten wie die anderen Mädchen, die es jedes Jahr schneiden ließen und es dem Perückenmacher verkauften, wenn er vorbeikam. Davon wollte sie nichts wissen, Sir, sie war ein gutes Mädchen …«
Als der Coroner dies hörte, erhellte sich seine Miene ein wenig, wie Dodger zufrieden feststellte. Es war die Mühe wert gewesen, den Doppelten Henry zu suchen und bei zwei Pints alle Einzelheiten aus ihm herauszuholen.
»Es wäre sicher nicht angebracht, in diesem Fall von Glück zu sprechen, Madam«, sagte der Coroner, »aber es könnte sein, dass wir Ihre Nichte bei uns im Leichenhaus haben, und zwar schon seit einigen Tagen. Ich habe sie gestern bei meinem Rundgang bemerkt und war von dem wunderschönen blonden Haar beeindruckt. Ach, an der unteren Themse spielen sich solche Tragödien leider viel zu häufig ab. Was diese liebliche junge Frau betrifft, hatte ich schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass ein Familienangehöriger kommt und nach ihr fragt.«
Daraufhin brach die Alte fast zusammen und wimmerte: »Oje, was soll ich nur ihrer Mutter sagen? Ich meine, ich habe ihr versprochen, gut auf sie achtzugeben, aber die jungen Mädchen heutzutage …«
»Ja, ich verstehe voll und ganz«, sagte der Coroner schnell und fuhr fort: »Trinken Sie noch eine Tasse Tee, gute Frau, und dann bringe ich Sie zur fraglichen Leiche.«
Diesen Worten folgten neuerliches Wehklagen und noch mehr Tränen, und es waren echte Tränen, denn inzwischen ging Dodger so sehr in seiner Rolle auf, dass er – beziehungsweise sie – zu einem Ohnmachtsanfall imstande gewesen wäre. Vorsichtig trank er den Tee und achtete darauf, dass keine Warze abfiel. Kurze Zeit später führte der Coroner die Alte, die er so sehr bemitleidete, am Arm zum Leichenhaus. Die Leiche der fraglichen jungen Frau war ein wenig gesäubert worden, wodurch man glauben konnte, sie schliefe nur, und ein Blick genügte der armen Alten. Hier handelte es sich nicht mehr um reine Schauspielerei, und wenn doch, so hätte der Auftritt den donnernden Applaus des Publikums verdient.
Die alte Frau wandte dem freundlichen Coroner ein Gesicht voller Haare, Rotz und Tränen zu und sagte: »Ich bin nicht reich, Sir, ich bin es
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