Dunkle Halunken: Roman (German Edition)
wirklich nicht. Das Grab für meinen lieben Arthur in Lavender Hill hat mich das letzte Geld gekostet, Sir, es wird sicher eine Weile dauern, bis ich ein anständiges Begräbnis für meine arme Nichte bezahlen kann. Glauben Sie, man nähme sie bei Crossbones?« [6]
»Das weiß ich nicht, Madam, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Ihre liebe Nichte vom Land, die sich erst seit kurzer Zeit in der Stadt aufhielt, zu einer …« Der Coroner räusperte sich verlegen und fuhr fort: »… zu einer Winchestergans geworden ist.« Er holte sein Taschentuch hervor und wischte eine höchst ungewöhnliche Träne fort. »Madam, ich bin gerührt von Ihrer Notlage und der Entschlossenheit, mit der Sie das Beste für die Seele dieser armen jungen Dame zu tun versuchen. Es mangelt uns hier nicht an Eis, und ich garantiere Ihnen, dass Ihre Nichte bei uns bleiben kann, nicht für immer, wohl aber für etwa zwei Wochen, und diese Zeit sollte mir reichen, mit den Personen in Kontakt zu treten, die Ihnen vielleicht helfen können.«
Er wich einen Schritt zurück, als die Alte versuchte, die nicht sehr angenehm riechenden Arme um ihn zu schlingen. »Gott segne Sie, Sir, Sie sind ein wahrer Gentleman«, sagte sie. »Ich werde jeden Stein umdrehen, Sir, ja, das werde ich, Sir, vielen, vielen Dank für Ihre Güte. Ich habe einige Freunde, mit denen ich reden kann und die mir vielleicht dabei helfen, ihrer Mama einen Brief zu schreiben, vielleicht haben sie das Geld fürs Porto, und ich werde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um Ihnen keine Last zu sein, Sir. Ich möchte mir nicht nachsagen lassen, ich hätte jemanden von Ihnen ins Armengrab gebracht, Sir.« An dieser Stelle strömten tatsächlich Tränen über die Wangen des Coroners. Und Dodger meinte es ernst. Der Mann war ein anständiger Bursche, das merkte er sich.
Der Coroner beauftragte einen Beamten, die Alte zum Kai zurückzubringen, und bevor er sie verabschiedete, drückte er ihr genug Geld für den Fährmann in die Hand. Und so sah der namenlose Beobachter auf dem Mond, wie die arme Alte durch die böse Stadt humpelte, bis sie in einer Gasse plötzlich in die Kanalisation fiel, wo sie starb, aber sofort als Dodger wiedergeboren wurde – was sie vermutlich der Lady verdankte –, noch dazu als ein erschütterter Dodger.
Er war daran gewöhnt, Rollen zu spielen. Als Dodger musste er mit allen Wassern gewaschen sein, allen ein Freund und niemandem ein Feind. Das war schön und gut, aber manchmal wich das alles fort, und dann war er nur noch Dodger, allein im Dunkeln. Er merkte, dass er zitterte, und unten in den gastlichen Abwasserkanälen hörte er die Geräusche von London, gefiltert von den Abflussgittern. Sorgfältig packte er die Sachen der alten Frau zu einem Bündel zusammen und versuchte sich die genaue Stelle einer jeden Warze einzuprägen. Dann ging er los.
Er war noch immer traurig wegen des ertrunkenen Mädchens, so traurig wie die Alte. Es war wirklich alles sehr schade und auch eine Schande, dass so etwas passierte. Er wollte dafür sorgen, dass die Unbekannte tatsächlich ein ordentliches Begräbnis bekam, wenn dies alles vorbei war – sie sollte weder in einem Armengrab enden noch an einem womöglich noch schlimmeren Ort. Geistesabwesend toshte er sich seinen Weg durch die Stadt und sammelte dabei die eine oder andere Münze ein.
Nun, das mit dem Coroner war geklärt, aber Leichen benötigten viel Aufmerksamkeit, und es nutzte nichts, er musste zu Missus Holland. Das bedeutete einen Abstecher nach Southwark, und dort musste selbst ein Geezer wie Dodger vorsichtig sein. Aber wenn es einen vorsichtigen Geezer gab, so war es Dodger.
Missus Holland. Sie hatte keinen anderen Namen. Schon allein galt sie als eine Gang, und wenn das nicht reichte, war da noch ihr Mann namens Aberdeen Knocker, von seinen Freunden Bang genannt, der die Stadt Aberdeen vermutlich nie gesehen hatte; sie lag irgendwo im Norden, vielleicht in Wales. Der Spitzname war einfach auf ihm gelandet, wie es in Londons Straßen oft geschah – Dodger hatte seinen auf ähnliche Weise bekommen –, aber seine Haut war schwarz wie das Innere eines Kamins. Seit sechzehn Jahren war er mit Missus Holland verheiratet, zumindest rein theoretisch. Ihr Sohn, aus irgendeinem Grund von allen Halber Bang genannt, war so schlau wie ein Verlies voller Anwälte und eine echte Hilfe für die Geschäfte der Familie, die vor allem Immobilien und Menschen betrafen.
Missus Holland hatte großes
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