Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkle Halunken: Roman (German Edition)

Dunkle Halunken: Roman (German Edition)

Titel: Dunkle Halunken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
Vom Netzwerk:
Nachmittag, nach einem Abstecher ins Gunner’s Daughter und zwei Pints mit einigen Kumpeln, insbesondere einem – der gute alte Dodger, er vergaß seine Freunde nicht, jetzt, da er nach der Sache mit dem teuflischen Friseur Geld besaß –, war er bereit, obwohl ihm Solomons Kichern nicht gefiel.
    Dodger hatte gehört, dass Gott alles beobachtete, obwohl er, was die Slums von London betraf, oft die Augen zu schließen schien. Vielleicht sah Gott an diesem Tag nicht hin, und die Leute nahmen ohnehin nicht viel wahr. Vielleicht hätte nur ein Beobachter auf dem Mond die alte Frau bemerkt – eine bedauernswerte, mitleiderregende Alte, selbst nach den Maßstäben der schmutzigen Viertel –, die sich an einem Seil hinabhangelte, äußerst geschickt auf dem Boden landete und mühsam davonhumpelte.
    Was diesen Teil des Plans betraf, machte sich Dodger keine allzu großen Sorgen. Es gab nur wenige Stellen, von denen aus man das Seil sehen konnte, aber leider kam eine gebrechliche alte Frau nur langsam voran. Gebrechliche alte Frauen – ungewaschen obendrein, wie in diesem Fall – hatten gewöhnlich nicht das Geld, mit einer Kutsche zu fahren, aber Dodger wollte nicht den ganzen weiten Weg bis zum Fluss auf diese Weise vorwärtskommen. Indem sie verzweifelt mit ihrem Gehstock winkte, gelang es der Alten, eine Kutsche anzuhalten, und als der Kutscher den erbarmungswürdigen Zustand des alten Mädchens sah, dessen Gesicht dank Marie Jo eine fröhliche Spielwiese für Warzen zu sein schien, dachte er an seine alte Mutter, half ihr beim Einsteigen und gab ihr nicht einmal zu wenig Wechselgeld heraus.
    O ja, sie war eine wirklich höchst bedauernswerte Alte, die roch, als hätte sie sich seit mindestens einer Woche nicht gewaschen. Und Warzen? Nie zuvor hatte man so schreckliche Warzen gesehen. Sie trug eine Perücke, aber das war angesichts der Empfindlichkeiten alter Frauen nicht ungewöhnlich, und lieber Himmel, es war eine schreckliche Perücke, so ziemlich das Schlimmste, was ein Gebrauchtladen anzubieten hatte.
    Der Kutscher sah ihr voller Mitleid nach, als sie humpelte, als täten ihr die Füße weh, was auch tatsächlich der Fall war, denn Dodger hatte sich Holzstücke in die Stiefel gelegt, wodurch jeder Schritt zur Qual wurde. Als er den nächsten Kai erreichte, schienen seine Füße in Flammen zu stehen. Marie Jo hatte ihm einmal gesagt, dass jemand mit seinem Talent auf der Bühne stehen sollte wie sie einstmals selbst, aber er wusste, dass Schauspieler nicht viel verdienten. Eine Bühne zu betreten, lohnte sich seiner Meinung nach nur, wenn es dort etwas zu stehlen gab.
    Ein Fährmann und zufälligerweise ein Bursche, mit dem Dodger einige Stunden zuvor geplaudert hatte – der Doppelte Henry, ein Stammgast im Gunner’s Daughter  –, setzte die arme Alte mit den Warzen und den grässlichen Zähnen über und half ihr in der Nähe des Leichenhauses von Four Farthings, Londons kleinstem Bezirk, freundlich von Bord. Vielleicht beobachtete jemand auf dem Mond, wie die Alte von dort aus zum Büro des Coroners hinkte. Sie bot einen wahrhaft herzzerreißenden Anblick. Einen so herzzerreißenden, dass ein Beamter im Leichenhaus, der von Lebenden nicht viel hielt und an chronisch schlechter Laune litt, ihr sogar eine Tasse Tee anbot, bevor er ihr den Weg zum Büro des Coroners beschrieb.
    Der Coroner war ein freundlicher Mann – wie die meisten Coroner, was erstaunlich war, wenn man bedachte, was sie alles sahen und wussten. Dinge, die anständige Leute nicht sehen und von denen sie auch nichts wissen sollten. Dieser Coroner hörte der Alten zu, die tränenüberströmt von ihrer vermissten Nichte erzählte. Es war eine vertraute Geschichte, so bekannt wie jene, die Dodger von der Dreckigen Dory gehört hatte: Das süße Mädchen kam aus irgendeinem Ort in Kent, in der Hoffnung, in London eine gute Anstellung und ein besseres Leben zu finden. Aber was sie erwartete, war ein schrecklicher Apparat, der die Hoffnungsvollen, Unschuldigen und ganz allgemein die Lebenden nahm und sie … in etwas anderes verwandelte.
    Der Coroner kannte derlei, denn er hatte jeden Tag damit zu tun, aber er war überwältigt von den Tränen und dem Wehklagen in der Art von: »Ich habe es ihr gesagt, ich habe gesagt, wir kämen schon zurecht, irgendwie.« Und: »Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht mit irgendwelchen Männern auf der Straße reden soll, Sir, ja, das habe ich gesagt, Sir, aber Sie wissen ja, wie das mit jungen Mädchen

Weitere Kostenlose Bücher