Dunkle Halunken: Roman (German Edition)
dafür, wenn man solche traurigen sterblichen Überbleibsel zum Büro eines Gerichtsmediziners brachte. Der Doppelte Henry hatte Dodger einmal erzählt, dass es sich manchmal lohne, die Leiche über eine längere Strecke zu rudern – zu dem Verwaltungsbezirk, der am meisten dafür bezahlte. Aber in den meisten Fällen ging die Fahrt zum Coroner von Four Farthings, der dann eine Todesanzeige aufgab, die es manchmal sogar in die Zeitung schaffte. Die Leichen der Mädchen und jungen Frauen endeten vielleicht auf dem Crossbones Graveyard oder bekamen auf irgendeinem anderen Friedhof ein Armenbegräbnis. Manchmal aber, und das war allgemein bekannt, landeten sie in einem Lehrkrankenhaus auf dem Seziertisch, damit Medizinstudenten sie aufschneiden konnten.
Mary flennte noch immer, und von gelegentlichem Schluchzen und Schniefen untermalt sagte sie: »Es ist so traurig. Sie haben alle langes blondes Haar. Alle Mädchen vom Land haben langes blondes Haar, und sie sind auch … ihr wisst schon … unschuldig.«
»Ich war auch mal unschuldig«, warf die Dreckige Dory ein. »Hat mir aber nichts genutzt. Dann wurde mir klar, was ich falsch gemacht habe.« Sie fügte hinzu: »Aber ich bin hier auf den Straßen geboren und wusste, womit es zu rechnen gilt. Die armen blonden Unschuldigen, sie ham nicht die geringste Hoffnung auf einen günstigen Ausgang, sobald ihnen der erste Bursche Fusel einflößt.«
Mary Drehdichschnell schniefte erneut. »’n Typ hat einmal versucht, mich mit Fusel gefügig zu machen, aber ihm wurde das Geld knapp, und ich hab ihm den Rest abgeknöpft, während er schlief. Die beste Uhr mit der besten Kette, die ich je gestohlen habe«, fuhr sie fort. »Die armen Mädchen, sie sind nicht hier geboren wie wir, sie haben keine Ahnung.«
Ihre Worte erinnerten Dodger an Charlie. Dann dachte er an Solomon und daran, was er gesagt hatte. Wie in die leere Luft sprach Dodger: »Ich sollte das Toshen aufgeben …« Er sprach nicht weiter, als ihm klar wurde, dass die Worte vor allem ihm selbst galten. Was könnte ich tun?, fragte er sich. Immerhin, jeder muss arbeiten, jeder muss essen und leben.
Oh, das Lächeln auf Opas Gesicht … Was hatte er in dem letzten Lächeln gesehen? Angeblich hatte er die Lady erblickt. Jeder Tosher kannte jemanden, der die Lady gesehen hatte, aber solche Berichte stammten immer aus zweiter Hand – die Erzähler waren der Lady nie selbst begegnet. Trotzdem wussten alle Tosher, wie sie aussah. Sie war recht groß und trug ein glänzendes Gewand, wie aus Seide. Sie hatte wunderschöne blaue Augen, und ein feiner Nebel umgab sie. Wenn man auf ihre Füße blickte, so stellte man fest, dass Ratten auf ihren Schuhen hockten. Es hieß, dass sie gar keine richtigen Füße hatte, sondern Rattenkrallen. Aber Dodger wusste, dass die Tosher nie den Mut hätten, auf die Füße der Lady zu starren, um sich Gewissheit zu verschaffen. Sie fürchteten sich davor, dass es wirklich Rattenfüße waren.
Alle diese Ratten, die einen beobachteten und dann sie ansahen. Vielleicht, nur vielleicht – man konnte nie wissen – genügte ein Wort von ihr, um die Ratten loszulassen. Ein Wort, um die Ratten auf einen zu hetzen, wenn man ein böser Tosher gewesen war. Und wenn man ein guter Tosher war, dann lächelte sie und gab einem einen Kuss (oder weit mehr als nur einen Kuss, wie manche behaupteten). Und von jenem Tag an hätte man beim Toshen immer Glück.
Dodger dachte wieder an die armen Mädchen, die von den Brücken in den Tod sprangen. Viele von ihnen erwarteten ein Kind … An dieser Stelle angelangt, ließ er den Gedanken los, weil das Barometer seines Wesens immer in Richtung heiter tendierte. Im Großen und Ganzen hatte er Kummer immer auf Abstand zu halten versucht, und außerdem warteten dringende Angelegenheiten auf ihn.
Doch sie waren nicht dringend genug, ihn daran zu hindern, den Krug zu heben und zu rufen: »Auf Opa, wo auch immer er sich gerade herumtreibt!« Die anderen stimmten mit ein, vermutlich in der Hoffnung auf eine weitere Runde. Doch sie wurden enttäuscht, denn Dodger fügte hinzu: »Hört mir mal zu! In der Nacht des großen Unwetters hat jemand eine junge Frau zu töten versucht, ich schätze, eine von den Unschuldigen, über die wir gerade gesprochen haben. Aber sie rannte weg, und ich fand sie, und nun kümmert man sich um ihr Wohl.« Er zögerte angesichts einer Mauer des Schweigens, und mit schwindender Hoffnung fuhr er fort: »Sie hat goldenes Haar, und
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