Dunkle Halunken: Roman (German Edition)
ihm die Alte, deren Gesicht eine einzige Faltenlandschaft bildete, eines Tages erzählt hatte, woher die Blumen stammten, und seitdem dachte Dodger über Friedhöfe ganz anders als vorher. Bei ihren Worten war es ihm kalt über den Rücken gelaufen, aber wenn man sehr alt war – so alt, dass man älter war als viele der Verstorbenen in den Gräbern und deshalb ebenfalls Achtung verdiente –, ergab es vielleicht einen Sinn, Blumen von den Grabsteinen der kürzlich Bestatteten zu stehlen. Immerhin erlitt kaum jemand Schaden, und die Blumen, die die Verstorbenen ohnehin nicht mehr riechen konnten, hielten wenigstens die liebenswerte Alte am Leben.
Es war ein trauriger Gedanke, und es war eine schauerliche Vorstellung, dass Molly des Nachts auf dem Friedhof Blumenkränze einsammelte, sie im Dunkeln sorgfältig auseinandernahm und daraus mit sanfter Hand Sträuße für die Lebenden anfertigte. Welche Rolle spielte es schon nach den Maßstäben der Welt, dass den Toten Blumen gestohlen wurden, die sie nicht sehen konnten, wenn dafür die arme alte Sanfte Molly, der nur noch ein Zahn geblieben war, wenigstens eine Nacht lang leben konnte? Außerdem, dachte Dodger, einige der Kränze sehen aus wie ein ganzer Blumenladen, und was macht es schon, wenn einige hübsche Blüten fehlen? Dieser Gedanke munterte ihn auf.
Deshalb zog er Simplicity mit sich, als er auf die Alte zutrat, die sich auf der Straße niederkauerte und wahrhaft erbarmungswürdig wirkte, wozu sie sich nicht einmal anstrengen musste. Er gab ihr einen Sixpence – jawohl, einen Sixpence – für einen kleinen Strauß duftender Blumen. Und falls sich die Toten in ihren Gräbern umdrehten, so waren sie großmütig genug, dabei leise zu sein, und außerdem tat ihnen die Bewegung gut.
Dodger reichte Simplicity die Blumen und murmelte: »Hier, ein Geschenk für dich.« Und sie sagte, ja, sie sagte es tatsächlich: »Oh, Rosen!« Dodger war ganz sicher. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, wie sie bei den Worten eine Rose formten und wie sich der Mund wieder schloss. Simplicity schien ebenfalls überrascht zu sein, die Worte gehört zu haben, und tief im Innern verspürte Dodger erneut den Wunsch, jemanden ordentlich zu verprügeln.
Dann sagte Simplicity: »Hör zu, Dodger, ich habe Mister und Missus Mayhew bei einem Gespräch belauscht. Ich bin ihnen sehr dankbar, aber … Es ist so, wie ich schon befürchtete – sie sind erst dann beruhigt, wenn ich in die sichere Obhut meines Ehemanns zurückkehre.« Ihr Gesichtsausdruck wies in aller Deutlichkeit darauf hin, wie entsetzlich sie diese Vorstellung fand.
Dodger wandte den Kopf und blickte zur Haushälterin zurück, die einige Meter hinter ihnen ging und das Notizbuch bereithielt, als wolle sie alles aufschreiben. »Ich glaube, der äußere Eindruck trügt und du bist nicht so krank, wie es den Anschein hat, oder?«, fragte er leise. Die Antwort war ein stilles Ja, und er nahm es zum Anlass, die Stimme noch mehr zu senken und zu sagen: »Zeig es den anderen nicht! Verlass dich drauf – ich sorge dafür, dass du woanders untergebracht wirst.«
Simplicity strahlte als sie flüsterte: »Oh, Dodger, ich bin ja so froh, dir noch einmal zu begegnen. Jeden Abend breche ich in Tränen aus, wenn ich an das Unwetter denke und mich erinnere, wie du die schrecklichen Männer vertrieben hast, die …«, sie zögerte kurz, »… die so grob waren.«
Die Sanftheit dieser Worte traf Dodger mitten ins Herz, wirbelte um ihn herum und kehrte zum Herzen zurück. Glaubte sie wirklich, dass er ihr helfen wollte? Dass er kein Spielchen mit ihr trieb?
»Ich weiß, dass ich nicht hassen sollte«, fuhr sie fort, »aber diese Männer haben Hass verdient. Ihretwegen kann ich meinen wahren Namen nicht nennen. Ich wage nicht, ihn laut auszusprechen. Nicht einmal dir gegenüber, noch nicht. Vorläufig muss ich Simplicity bleiben, obwohl ich mich nicht für so simpel halte.«
Die Sonne schien noch immer, und nach wie vor lag Honig in der Luft, aber Dodger beschlich das Gefühl, dass sie abgesehen von Missus Sharples noch anderweitig beobachtet wurden, dass ihnen jemand folgte. Er wusste es einfach, denn auf der Straße hatte er gelernt, kleinste Veränderungen zu bemerken, als hätte er Augen im Hinterkopf. War es jemand, der auf eine Gelegenheit hoffte, sie zu bestehlen? Oder vielleicht ein Peeler? Man wurde kein Geezer ohne Augen am Hintern, und es half, wenn man auch welche auf dem Kopf hatte. Eins stand fest: Jemand
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