Dunkle Herzen
mehr nach der Angelegenheit. Aber ich würde es
gar nicht gern sehen, wenn sich ein solches Ereignis wiederholt.« Atherton setzte das Lächeln auf, mit dem er normalerweise durchschnittliche Schüler, die überraschend eine gute Note erzielt hatten, bedachte. »Ich verlasse mich darauf, daß Sie mit der nötigen Diskretion vorgehen, Cameron. Wenn ich irgendwie helfen kann, lassen Sie es mich wissen.«
»Das werde ich tun.«
Atherton zückte seine Brieftasche, entnahm ihr zwei funkelnagelneue Dollarscheine und legte diese unter seinen leeren Teller. »Ich muß los. Muß mich beim Kuchenverkauf sehen lassen.«
Cam sah ihm nach, als er das Lokal verließ, einigen Fußgängern zuwinkte und die Main Street hinabschlenderte.
Den Rest des Tages verbrachte er mit der Bewältigung von Papierkram und Routinepatrouillen. Doch ehe die Sonne unterging, fuhr er noch einmal zum Friedhof. Fast eine halbe Stunde lang starrte er dumpf vor sich hinbrütend in das kleine, leere Grab.
Carly Jamison war fünfzehn Jahre alt und haßte die ganze Welt. Der größte Teil dieses Hasses richtete sich gegen ihre Eltern, die einfach nicht verstanden, was es hieß, jung zu sein. Da hockten sie nun in ihrem spießigen Haus in diesem öden Kaff Harrisburg, Pennsylvania, und hatten die Langeweile auf ihre Fahne geschrieben. Die gute alte Marge und der gute alte Fred, dachte sie mit einem geringschätzigen Schnauben, verlagerte das Gewicht ihres Rucksacks ein wenig und ging zur Abwechslung rückwärts, immer an der Route 15 South entlang, wobei sie auffordernd den Daumen hochhielt.
Warum trägst du keine hübschen Kleider, so wie deine Schwester?
Warum strengst du dich nicht mehr an und bekommst gute Noten, so wie deine Schwester?
Warum kannst du dein Zimmer nicht in Ordnung halten, so wie deine Schwester?
Verdammt, verdammt, verdammt!
Ihre Schwester haßte sie gleichfalls, die hyperperfekte Jennifer, die sich immer päpstlicher als der Papst gab und stets wie aus dem Ei gepellt aussah. Jennifer, die Einserschülerin, die ein ätzendes Stipendium gewinnen und auf die ätzende Harvard-Universität gehen würde, um dort ein ätzendes Medizinstudium aufzunehmen.
Ihre roten Hightops knirschten auf dem Schotter, während vor ihrem geistigen Auge das Bild einer Puppe mit hellblonden Haaren, die in perfekten Locken um ein herzförmiges Gesicht fielen, entstand. Die babyblauen Augen blickten leer, und um den lieblichen Mund lag ein überhebliches Lächeln.
Hi, mein Name ist Jennifer , würde die Puppe sagen, wenn man auf einen Knopf drückte. Ich bin absolut perfekt. Ich tue alles, was man mir sagt, und ich mache immer alles richtig.
Dann stellte Carly sich vor, wie sie die Puppe von einem Hochhaus fallen ließ und zusah, wie das perfekte Gesicht auf dem Beton zerschellte.
Scheiße, auf keinen Fall wollte sie so sein wie Jennifer. Mühsam langte sie in die Tasche ihrer knallengen Jeans und förderte eine zerknautschte Zigarettenpackung zutage. Nur noch eine einzige Marlboro, dachte sie angewidert. Na ja, sie hatte hundertfünfzig Dollar bei sich, und irgendwann mußte sie ja mal auf ein Geschäft stoßen.
Carly zündete die Zigarette mit einem feuerroten Einwegfeuerzeug – Rot war ihre erklärte Lieblingsfarbe – an, stopfte das Feuerzeug wieder in die Tasche und warf die leere Packung achtlos fort, wobei sie die vorüberfahrenden Wagen halbherzig verwünschte. Bislang hatte sie beim Trampen Glück gehabt, und da der Tag wolkenlos und angenehm kühl war, machte ihr ein Fußmarsch nichts aus.
Sie würde eben bis Florida, bis Fort Lauderdale per Anhalter fahren. Dort wollte sie unbedingt ihre Ferien verbringen, doch ihre Eltern hatten es nicht gestattet. Angeblich war sie zu jung. Immer war sie entweder zu jung oder zu alt, je nachdem, was ihren Eltern besser in den Kram paßte, wenn sie ihr etwas verbieten wollten.
Himmel, die hatten ja keine Ahnung, dachte sie und
warf aufgebracht den Kopf zurück, so daß ihr stacheliger purpurroter Haarschopf um ihr Gesicht flog. Die drei Ohrringe in ihrem linken Ohr tanzten wild auf und ab.
Carly trug eine mit Buttons und Pins übersäte Jeansjacke und ein T-Shirt mit Bon-Jovi-Aufdruck. Ihre engen Jeans hatte sie absichtlich über dem Knie zerrissen, und an einem Handgelenk baumelte ein Dutzend schmaler Armbänder; zwei Swatch-Uhren zierten das andere.
Einsfünfundsechzig war sie groß und wog hundertzehn Pfund. Carly war sehr stolz auf ihren Körper, der erst im letzten Jahr begonnen hatte,
Weitere Kostenlose Bücher