Dunkle Herzen
sich zu entwickeln. Sie stellte sich – sehr zum Verdruß ihrer Eltern – gerne in engen Sachen zur Schau, was ihr eine tiefe innere Befriedigung verschaffte, besonders da Jennifer mager und flachbrüstig war. Carly betrachtete es als persönlichen Triumph, ihre Schwester ausgestochen zu haben, auch wenn es sich nur um etwas so Banales wie die Körbchengröße handelte.
Ihre Eltern nahmen an, sie sei schon sexuell aktiv, vorzugsweise mit Justin Marks, und bewachten sie daher wie zwei Zerberusse. Die warten echt nur darauf, daß ich ins Zimmer platze und verkünde, hey Leute, ich bin schwanger, dachte Carly grollend. Sexuell aktiv! Diesen Ausdruck gebrauchten sie mit Vorliebe, um zu beweisen, daß sie up to date waren.
Sie hatte Justin jedenfalls noch nicht rangelassen – nicht, daß er das nicht gewollt hätte. Aber sie war für das große Ereignis einfach noch nicht bereit. Vielleicht würde sie in Florida ihre Meinung ändern.
Sie drehte sich um, um eine Weile vorwärts zu gehen, und schob ihre getönte Brille höher auf die Nase. Sie haßte ihre Kurzsichtigkeit und hatte sich erst kürzlich geweigert, eine Brille ohne phototrope Gläser zu tragen. Da sie schon zwei Paar Kontaktlinsen verloren hatte, lehnten ihre Eltern es ab, ihr neue zu kaufen.
Dann würde sie sich eben selbst welche besorgen, dachte Carly. Sie würde in Florida einen Job finden und niemals in das beschissene Pennsylvania zurückkehren. Sie würde sich ein Paar von diesen neuartigen Durasoft-Linsen zulegen
und damit ihre langweiligen haselnußbraunen Augen in strahlendblaue verwandeln.
Ob man wohl schon nach ihr suchte? Vermutlich nicht. Was sollte ihre Eltern ihr Verschwinden auch groß kümmern? Sie hatten ja Jennifer die Einzigartige. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie klimperte wütend mit den Lidern. Was ging sie das noch an? Zur Hölle mit ihnen allen!
Verdammt, verdammt, verdammt!
Bestimmt glaubten sie, sie sei in der Schule und langweile sich bei amerikanischer Geschichte zu Tode. Ihr war es doch scheißegal, welcher alte Furz denn nun die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet hatte. Heute ging es um ihre Freiheit. Nie wieder würde sie in einem Klassenzimmer schmoren oder den Vorhaltungen ihrer Mutter lauschen müssen, wenn diese ihr predigte, ihr Zimmer aufzuräumen, die Musik leiser zu stellen oder sich nicht so stark zu schminken.
Was ist nur mit dir los, Carly? pflegte die Mutter zu jammern. Warum benimmst du dich so? Ich verstehe dich einfach nicht.
Wie wahr, wie wahr. Ihre Mutter verstand nichts. Keiner verstand sie.
Carly wandte sich um und winkte wieder mit dem Daumen. Doch mittlerweile hatte ihre Hochstimmung merklich nachgelassen. Seit vier Stunden befand sie sich nun schon auf der Straße, und ihr Trotz schlug rasch in Selbstmitleid um. Als ein Sattelschlepper an ihr vorbeirauschte und ihr den Straßenstaub ins Gesicht trieb, dachte sie flüchtig daran, einfach umzukehren und nach Hause zurückzugehen.
Nur über ihre Leiche! Carly straffte sich entschlossen. Sie würde nicht zurückgehen. Sollten sie doch nach ihr suchen! Sie wünschte sich sehnlich, daß die Eltern nach ihr suchen würden.
Leise seufzend verließ sie den Schotterstreifen und ließ sich auf einer Grasnarbe im Schatten einiger Bäume nieder, neben einem rostigen Stacheldrahtzaun, hinter dem Kühe friedlich grasten. In ihrem Rucksack befand sich neben ihrem Bikini, ihrer Geldbörse, pinkfarbenen Hotpants
und T-Shirts zum Wechseln auch eine Doppelpackung Hostess Cup-Kuchen. Sie aß beide Kuchen auf und leckte sich dann die Schokolade von den Fingern, während sie die Kühe beobachtete.
Hätte sie doch nur daran gedacht, ein paar Dosen Cola einzustecken! Im nächstbesten Provinznest würde sie etwas zu trinken sowie einen Vorrat an Zigaretten kaufen. Ein Blick auf ihre beiden Uhren sagte ihr, daß es kurz nach Mittag war. Die Schulcafeteria würde jetzt überfüllt sein. Carly fragte sich, was die anderen wohl sagen würden, wenn sie erfuhren, daß sie, Carly Jamison, bis nach Florida getrampt war. O Mann, die würden platzen vor Neid! Das war vermutlich das Coolste, was sie je gemacht hatte. Jetzt würde man ihr Aufmerksamkeit schenken. Alle würden sie ihr Aufmerksamkeit schenken.
Erschöpft döste sie ein und erwachte benommen und mit verkrampften Gliedern. Nachdem sie ihren Rucksack geschultert hatte, trottete sie zur Straße zurück und streckte den Daumen hoch.
O Gott, sie kam um vor Durst! Kuchenkrümel kratzten sie im Hals
Weitere Kostenlose Bücher