Dunkle Herzen
einen pubertätsbedingten Koller bekommen hatte, wie würde ihm dann wohl zumute sein, wenn er mit Polizeigewalt nach Hause gebracht würde? Sie erinnerte sich an seine Tränen, seine Verzweiflung, und seufzte resigniert.
Also würde sie erst einmal hinuntergehen und sehen, ob sie ihn finden konnte. Auch ohne spezielle Ausbildung
konnte sie ihm gut zureden und ihn mit etwas Glück und Ausdauer auch beruhigen. Langsam, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten, stieg sie die Stufen hinunter.
Stimmen. Mit wem redete Ernie da bloß? fragte sie sich. Immerhin bestand die Chance, daß Charlie noch arbeitete – o Gott – und der Junge ihn überrascht hatte. Da würde sie wohl alles erklären, Charlie um den Bart gehen und die Wogen glätten müssen, um Ernie zu seinen Eltern zurückbringen zu können, bevor es richtigen Ärger gab.
Nein, das waren gar keine Stimmen, stellte sie fest. Musik. Orgelmusik von Bach. Vielleicht bevorzugte Charlie diese getragene Musik, um eine seiner Arbeit entsprechende Atmosphäre zu schaffen.
Sie gelangte in einen schmalen Korridor. Wandleuchter spendeten ein schwaches Licht, welches die Schatten nicht ganz zu besiegen vermochte. Wieder waren durch die Musik hindurch raschelnde Bewegungen zu hören. Clare streckte zögernd eine Hand aus und zog einen langen, schwarzen Vorhang beiseite.
Und der Gong ertönte.
Auf einem aufgebockten Sarg lag eine Frau. Clare hielt sie zuerst für tot, da ihre Haut in dem sanften Kerzenlicht wächsern wirkte, doch dann bewegte die Frau den Kopf, und Clare erkannte voller Grauen, daß sie am Leben war.
Die Frau hatte die Arme über ihren nackten Brüsten verschränkt und hielt in jeder Hand eine schwarze Kerze. Zwischen ihren gespreizten Beinen schimmerte ein silberner Kelch, bedeckt von einem Hostienteller voll kleiner schwarzer Brote.
Ein Dutzend Männer in langen, mit Kapuzen versehenen Gewändern befand sich in dem Raum. Drei von ihnen näherten sich jetzt dem Altar und verneigten sich ehrerbietig.
Eine körperlose Stimme stimmte einen lateinischen Sprechgesang an; eine Stimme, die Clare sofort wiedererkannte. Sie begann unkontrolliert zu zittern.
Das Umfeld stimmte nicht, dachte sie verstört. Damals
waren da Bäume gewesen, ein Feuer und der Geruch nach Rauch. Sie klammerte sich so krampfhaft an den Vorhang, daß sich ihre Knöchel weiß gegen den schwarzen Stoff abhoben, und verfolgte mit blicklosen Augen das Geschehen. Die Stimme, die sie aus ihren Alpträumen kannte, erfüllte den kahlen kleinen Raum.
»Im Angesicht des Herrschers der Nacht und aller Dämonen der Hölle verkünde ich, daß Satan mein einziger Gebieter ist. Ihr, meine Brüder, seid meine Zeugen: Hiermit schwöre ich Ihm erneut Gefolgschaft und ewige Treue und flehe Ihn an, mir meine Bitten zu gewähren. Und euch, meine Brüder, fordere ich auf, desgleichen zu tun.«
Einstimmig wiederholten die Männer an seiner Seite ihren Eid.
Es ist wahr, dachte Clare entsetzt, während der Vorbeter und seine Mitbrüder ihr Ritual in lateinischer Sprache fortsetzten. Alles war wahr. Der Traum, ihr Vater. Lieber Gott, ihr Vater! Und der ganze Rest.
Domine Satanas, Rex Inferus, Imperator omnipotens.
Der Zelebrant ergriff den Hostienteller, hob ihn zu seiner Brust, wo ein schweres silbernes Pentagramm auf seiner Robe glitzerte, und rezitierte heidnische Worte in einer längst vergessenen Sprache. Dann stellte er den Teller fort, wiederholte die Geste mit dem Kelch und stellte auch diesen an seinen alten Platz zwischen den schmalen bleichen Schenkeln der Frau zurück.
»O mächtiger Herr der Finsternis, blicke wohlwollend auf uns herab und nimm dieses Opfer in Gnaden an.«
Der schwere, süße Duft von Weihrauch versetzte Clare in ihre Kindheit zurück und erinnerte sie an die langen, formellen Heiligen Messen, die sie besucht hatte. Nur war dies hier wohl auch eine Messe, dachte sie schaudernd. Eine schwarze Messe.
»Dominus Infernus vobiscum.«
»Et cum tuo.«
Clares Körper schien plötzlich von einer Eisschicht umhüllt zu sein. Fröstelnd bot sie all ihre Willenskraft auf, um ihre Beine zu zwingen, ihr zu gehorchen. Sie wollte zurücktreten
und fortlaufen, vermochte aber ihre starre Hand nicht von dem Vorhang zu lösen. Die eintönige Musik und der Weihrauch vernebelten ihr die Sinne, fast meinte sie, sich wieder in einem Traum zu befinden. Der Zelebrant hob die Arme und fuhr mit seiner Beschwörung fort. Seine tiefe, volltönende Stimme übte eine beinahe
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