Dunkle Herzen
Realität auf keinen Fall bestehen kann.«
»Ich habe die Statue gesehen, die Sie geschaffen haben. Den Hohenpriester. Baphomet.«
Erschüttert trat Clare abwehrend einen Schritt zurück. »Wovon redest du eigentlich? Hast du die Figur gestohlen?«
»Nein, das waren andere; Leute, die wissen, was Sie wissen. Sie haben es mit angesehen. Genau wie ich.«
»Was habe ich mit angesehen?«
»Ich gehöre dazu. Es gibt nichts, was ich dagegen machen kann. Ich gehöre dazu. Sehen Sie das denn nicht? Können Sie das denn nicht verstehen?«
»Nein.« Clare stützte sich mit einer Hand auf die Couchlehne. »Nein, das kann ich nicht verstehen, aber ich würde es gerne versuchen. Ich möchte dir helfen.«
»Ich dachte, es würde mir gefallen! Ich dachte, durch sie bekomme ich alles, was ich mir wünsche!«
Tränen quollen aus seinen Augen, aber sie brachte es nicht über sich, zu ihm zu gehen und ihn zu trösten. »Ernie, soll ich deine Eltern anrufen?«
»Wozu denn, zum Teufel?« Die Tränen verwandelten sich in Wut. »Was wissen die denn schon? Es interessiert sie ja auch nicht. Sie glauben, alles kommt wieder in Ordnung, wenn sie mich zu einem Psychiater schleifen. Das sieht ihnen ähnlich! Ich hasse sie, ich hasse sie alle beide.«
»Das meinst du doch gar nicht so.«
Ernie hielt sich, wie um ihre – und seine eigenen – Worte nicht mehr hören zu müssen, krampfhaft die Ohren zu. »Sie verstehen mich nicht. Keiner versteht mich, außer …«
»Außer wem?« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Das Weiße seiner Augen schimmerte im dämmrigen Licht, und auf seiner Oberlippe, die er erst einmal pro Woche rasieren mußte, zeigten sich feine Schweißtröpfchen. »Setz dich, Ernie. Setz dich und erzähl mir alles. Ich werde versuchen, es zu verstehen.«
»Es ist zu spät. Es gibt kein Zurück mehr. Ich weiß, was ich zu tun habe und wo ich hingehöre.« Er wirbelte herum und rannte aus dem Haus.
»Ernie!« Sie folgte ihm, blieb jedoch auf halber Strecke stehen, als sie sah, daß er in sein Auto sprang. »Ernie, warte!« Als er an ihr vorüberraste, blickte sie verzweifelt über die Straße. In seinem Elternhaus war alles dunkel. Fluchend lief Clare zu ihrem eigenen Wagen. An Lisas Schicksal konnte sie nichts mehr ändern, aber vielleicht vermochte sie Ernie zu helfen.
Er bog auf die Main ab, wo sie ihn aus den Augen verlor. Wütend mit der Hand auf das Lenkrad schlagend, machte sie sich daran, sämtliche Nebenstraßen nach seinem Auto abzusuchen. Zehn Minuten später war sie drauf und dran, die Suche aufzugeben, zu Rocco’s Pizzeria zu fahren und Ernies Eltern über den Zwischenfall zu informieren.
Dann entdeckte sie durch Zufall das auf dem Hinterhof von Griffith’s Bestattungsinstitut geparkte Fahrzeug. Clare
stellte ihr Auto direkt daneben. Prima, wirklich prima, dachte sie. Was hatte er hier zu suchen? Wollte er etwa einbrechen?
Ohne einen Gedanken an die Folgen ihrer Handlungsweise zu verschwenden, beschloß sie, hineinzugehen und ihn so schnell und leise wie möglich herauszuholen, um ihn zu seinen Eltern zu bringen.
Die Hintertür war unverschlossen. Clare öffnete sie vorsichtig, wobei sie gegen ihre instinktive Abneigung, einen Ort zu betreten, wo der Tod zum Alltag gehörte, ankämpfen mußte, schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß niemand erst kürzlich verstorben war, und schlüpfte hinein.
»Ernie?« flüsterte sie fragend. Ihre Stimme, die leise von den Wänden widerhallte, klang unwillkürlich ehrfürchtig. Sie bemerkte eine Eisentreppe, die nach unten führte. Da lag wohl der … Lieferanteneingang, vermutete sie voller Unbehagen. »Verdammt, Ernie, was willst du hier?«
Plötzlich klickte es in ihrem Kopf, und sie dachte an den Symbolismus. Särge und Kerzen. Clare kannte die Selbstmordrate unter Teenagern, und Ernie war nun wahrlich der perfekte Kandidat dafür. Unentschlossen blieb sie oben an der Treppe stehen. Sie war kein Arzt, wußte nicht, wie man sich in einem solchen Fall verhielt. Wenn sie ihn nun nicht aufhalten konnte …
Besser, sie machte sich auf die Suche nach Cam, entschied sie, obwohl sie sich wie ein Verräter vorkam. Doc Crampton wäre sogar noch geeigneter. Als sie sich zur Tür umdrehte, ließ sie ein Geräusch von unten zögern. Warum sollte ein halbwüchsiger Junge auf einen Cop hören – besonders wenn er diesen Cop nicht ausstehen konnte? Und sicherlich würde er auch auf den Rat eines Kleinstadtarztes keinen gesteigerten Wert legen. Wenn Ernie lediglich
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