Dunkle Küsse: Ein Vampirthriller (German Edition)
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I ch glaube, ich habe noch nie solch einen Abscheu für irgendein Geschöpf empfunden, ob für einen Menschen oder sonst etwas. Martinez hat entweder auf Martas Drängen hin selbst getrunken, oder durch unsere Verletzungen hat sich unser Blut vermengt. Doch er ist so schwer verwundet worden, dass sie wohl nicht sicher war, ob es funktionieren würde. Deshalb hat sie versucht, mich dazu zu bringen, dass ich sie verwandle.
Jedenfalls kann ich ihn nicht so zurücklassen. Vampire haben gewaltige Selbstheilungskräfte, aber einen fast abgetrennten Kopf wieder mit dem Körper zu vereinen? Und was für einen Vampir würde ein berüchtigter Drogenbaron abgeben? Ich muss ihn töten – diesmal richtig –, bevor es noch schlimmer kommt.
Ich fahre mir mit den Händen übers Gesicht, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich habe schon einige Abtrünnige getötet, aber bis jetzt hatten alle zumindest eine Chance zu kämpfen. Das hier wird so sein, als ermorde man ein hilfloses Baby.
Doch sofort vertreibt die kalte, harte Vernunft diesen Gedanken aus meinem Kopf. Martinez ist kein Baby. Er war in seinem ersten Leben ein Killer. Er wird auch im Tode einer sein. Schlimmer als vorher sogar, denn wenn er das hier überlebt und vampirische Kräfte besitzt, wird er so gut wie unverwundbar sein.
Ich spüre Martas Blick auf mir ruhen. Sie beobachtet mich genau. Ich zweifle nicht daran, dass sie versuchen wird, mich aufzuhalten, sobald sie sich wieder bewegen kann. Ich muss es sofort tun.
Der Raum ist nur mit diesen metallenen Feldbetten möbliert. Im Zimmer gegenüber war auch nichts anderes. Was kann ich benutzen, um ihm den zweiten Tod zu bringen? Es gibt hier kein Holz, das ich als Pflock verwenden könnte.
Mein Blick fällt auf Martas Messer.
Sobald ich mich danach bücke, beginnt sie zu stöhnen. Sie versucht einen Schritt in meine Richtung, doch ihre Beine haben noch nicht genug Kraft. Sie taumelt und fällt auf Hände und Knie.
Sollte ich sie aus dem Zimmer bugsieren? Sie ist so abscheulich wie ihr Sohn, aber sie zu zwingen zuzusehen, wie sein Körper zu Staub zerfällt, erscheint mir doch etwas grausam.
Ich gebe ihr keine weitere Chance, etwas zu unternehmen. Ich lasse das Messer fallen, hebe sie hoch und trage sie durch die Tür in das Zimmer gegenüber. Sie windet sich in meinen Armen wie ein zorniges Kind. Ich setze sie auf die Pritsche und reiße ein weiteres Stück von dem halben Bettlaken ab, das ich dort zurückgelassen habe. Ich fessle ihre gesunde Hand an das Bein der Pritsche. Ich bezweifle, dass sie sich mit der verletzten Hand losbinden könnte, und ganz gewiss ist sie nicht stark genug, um die Pritsche durch die Tür zu schleifen.
Ihr kehliges Stöhnen folgt mir, als ich wieder hinaus auf den Flur trete und die Tür hinter mir schließe.
Ich muss all meinen Willen aufbieten, um zu Martinez zurückzukehren. Wenn ich das Tier in mir heraufbeschwören könnte, wäre es leichter. Aber ich treffe eine menschliche Entscheidung, und es ist die menschliche Anna, die damit klarkommen muss.
Meine Hand zittert, als ich den Türknauf drehe. Das Messer liegt da, wo ich es fallen gelassen habe, bevor ich Marta hinausbrachte. Ich hebe es auf, gehe auf Martinez zu und bete, dass er nicht erkennt, was ich vorhabe. Ich erinnere mich daran, dass Avery, der Vampir-Arzt, der mich behandelte, nachdem ich angegriffen und verwandelt worden war, meine Gedanken offenbar von Anfang an lesen konnte. Ich weiß, dass ich das hier tun muss, doch erst Angst und Grauen zu erregen erscheint mir unnötig grausam.
Martinez’ Augen sind noch offen. Der Blick ist auf einen Punkt links von mir gerichtet. Rasch, ehe ich die Nerven verliere, trete ich hinter seine Pritsche, hebe das Messer und durchtrenne die Hautfetzen, die seinen Kopf an den Schultern halten. Der Kopf löst sich, die Augen rollen zurück. Er stößt ein Seufzen aus, das in meinem Verstand verbleibt, noch lange nachdem sein Körper zu Staub zerfallen ist.
»Anna.«
Diesmal kommt die Stimme definitiv nicht aus meinem Kopf.
Ich wirbele herum.
Max hat sich auf die Ellbogen gestützt. Er ist plötzlich vollkommen wach. Sein Gesicht ist verzerrt vor Verwirrung – und noch etwas anderem.
Furcht.
Er starrt auf die Pritsche, auf der vor Sekunden noch Martinez lag. Schließlich schweift sein Blick ab, sucht und hält den meinen.
»Herrgott, Anna«, flüstert er, und seine Stimme klingt heiser und erstickt vor unverhohlenem Entsetzen. »Was hast du getan? Was ist aus dir
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