Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aner Shalev
Vom Netzwerk:
Wetterberichten hin und her schwankte. Der Anblick Evas, ein schlafendes Dornröschen, auf der Seite liegend, mit dem Gesicht zu ihm, die hohen Wangenknochen, die halb offenen Lippen, der nackte Hals, die Brüste, die sich unter dem Nachthemd abzeichneten, erfüllten ihn mit Sehnsucht, er drehte sich auf die Seite, mit dem Gesicht zu ihr, die Beine angewinkelt wie sie, als wäre er ihr Spiegelbild, und dachte, für jemanden, der sie beide von oben betrachten würde, von einer Stelle über dem Doppelbett, würden sie bestimmt wie eine Vase aussehen, in die man nur noch Blumen stellen müsste.
    Und er erinnerte sich, dass er das schon einmal gesehen hatte, das war in der Notaufnahme, gleich nach dem Unfall, der Arzt bat sie, ihre Hose und das T-Shirt auszuziehen, er ging davon aus, dass sie ein Paar waren und sie keine Probleme hätte, sich in seiner Anwesenheit auszuziehen, und wie schnell hatte sie mitgespielt, mit äußerster Selbstverständlichkeit, sie zog T-Shirt und Hose aus und reichte sie ihm, routiniert wie bei Eheleuten, fast gleichgültig, und bat ihn sogar, ihr mit dem BH zu helfen, dann legte sie sich auf das schmale Behandlungsbett, mit leicht angewinkelten Beinen, und ließ es zu, dass der junge, energische Arzt ihren Blutdruck und den Puls maß, sie abhorchte, ihre Wunde am Knie reinigte und verband.
    Er erinnerte sich, wie ihre plötzliche und gleichgültige Schönheit ihn für einen Moment schockiert hatte, vielleicht lag es aber an der mechanischen Art, wie das Stethoskop auf ihre nackte, weiße Haut gedrückt wurde und rosafarbene Kreise hinterließ,wie Verbrennungen von einer winzigen Sonne, und er wandte den Blick von ihr und wunderte sich, warum ihm das geschah, was war der Grund dafür, dass sein Leben so schön war, fast zu schön, voller unerwarteter Begegnungen, Verbrennungen von Schönheit, voller Umbrüche und Zufälle, während das Leben von anderen Menschen anscheinend viel normaler ablief. Hier war er in der Notaufnahme und hielt den Trainingsanzug einer jungen Frau, von deren Existenz er vor einer Stunde noch nichts gewusst hatte, in der Hand und hatte schon eine Rolle in ihrem Leben eingenommen, nämlich ihre Kleidungsstücke zu hüten und sie ihr nach der Untersuchung wiederzugeben, und er fragte sich, was ihn dazu brachte, sich so intensiv in das Leben anderer Menschen hineinziehen zu lassen, schließlich war er doch ziemlich passiv, wozu brauchte er einen derartigen Gefühlsüberschwang, warum passierte das alles gerade ihm?
    Doch nun, in dem kleinen Zimmer am Washington Square, war alles ruhiger, ohne Unfall, ohne Notaufnahme oder Gefühlsüberschwang, ganz einfach ein langer, normaler Schlaf, und vielleicht würde es in dieser Woche die meiste Zeit so sein, vielleicht war Eva nach New York gekommen, um den Mangel an Schlaf nachzuholen, sie hatte doch bei der kosmologischen Tagung am Toten Meer fast kein Auge zugemacht. Er versuchte zu sehen, wie spät es war, aber er hatte seine Armbanduhr nicht an, er hatte sie vor dem Schlafengehen abgelegt, wie immer, und er sagte sich, vielleicht ist es besser so, vielleicht ist es besser, nicht zu wissen, wie spät es ist, und vielleicht würde auch die Woche langsamer vergehen oder irgendwie anders, wenn er nicht auf die Uhr schaute, und er blieb auf der Seite liegen und wartete, dass Eva aufwachen würde, kämpfte gegen die Versuchung, sie zu berühren, und lauschte konzentriert ihren Atemzügen, als wäre sie schon wach, als würde sie schon mit ihm sprechen und er müsste nur ihr Ein- und Ausatmen dechiffrieren, vielleicht sollte auch er ein Stethoskop an ihren Körper halten.
    Aber die Regelmäßigkeit ihres Atems, des Körpers, der sich leerte und füllte wie ein Akkordeon, zeigte ihm, dass sie sich ständig wiederholte oder vielleicht gar nichts sagte, nur schlief, und er fuhr fort, sie zu betrachten, versuchte, ohne die Hilfe einer Uhr zu schätzen, wie viel Zeit verging, bis sie ihm auf einmal wie eine große, moderne Schlafmaschine vorkam, eine so zuverlässige Maschine, dass sie vielleicht nie mehr aufwachen würde.
    Bevor sie nach New York kam, waren sie nie gemeinsam eingeschlafen, sie hatten nie nebeneinander geschlafen, weil sie beschlossen hatte, ihre Affäre vor ihrer Mutter geheim zu halten, sie trafen sich meist tagsüber, in ihrem Zimmer, wenn ihre Mutter bei der Arbeit war, sie stahlen eine Stunde von

Weitere Kostenlose Bücher