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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aner Shalev
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zukünftige Geschichten offen blieb, als wolle sie sich damit sein Interessesichern, bis sie ihm wie eine Art Scheherezade vorkam, als wäre dies der Kern ihrer Liebe, Geschichten zu erzählen, um ihn mit zukünftigen Geschichten zu locken, und als sei alles andere eigentlich nebensächlich.
    Manchmal hatte er sich gefragt, was passieren würde, wenn sie mit ihrer Geschichte zu einem Ende käme, würde es auch ihr Ende bedeuten, ihrer beider Ende, doch er wollte das nie zu Ende denken, eine Geschichte mit einem Ende kam ihm bedeutungslos vor, fast beleidigend, etwas, dem von vornherein ein Ende bestimmt war, sollte lieber gar nicht erst beginnen, und wenn man dem Begriff »Liebe« das Verlangen nach Unendlichkeit entzog, auch wenn es eine hoffnungslose Liebe war, nichts anderes als eine Illusion, blieb nur etwas übrig, das wertlos und überflüssig war, nur Sex, und so gesehen waren ihm Evas Aufschübe, das Versprechen von zukünftigen Geschichten, als etwas Positives erschienen, als ein Hinausschieben, als Aufschub des Endes, als immer mehr Pfeile, aus der Gegenwart in die Zukunft geschossen, vielleicht hatte sie recht, vielleicht war es gut, dass er nicht darauf bestand, alles jetzt zu hören, vielleicht war es besser, nicht alles zu wissen.
    Seltsam, als sie zum ersten Mal in sein Blickfeld trat, hatte sie ihn tatsächlich an Tanja erinnert, ein Eindruck, der sich zu Beginn ihrer Bekanntschaft weiter vertiefte, ja, beide hatten etwas Theatralisches an sich, manche ihrer Gesten waren sich ähnlich, der amüsierte, selbstbewusste Blick, das aufrechte Auftreten, der fast königliche Gang, die Angewohnheit, mit dem linken Auge zu zwinkern, die verwöhnte Ausdrucksweise, die Größe, der helle und reife Körper, vielleicht auch ihre Art zu rennen, die etwas Schwebendes an sich hatte. Er hatte sie schon von weitem bemerkt, sie war am Straßenrand gelaufen, unter den staubigen Bäumen, die sie nicht verbargen, und er verlangsamte das Auto, um nicht zu schnell an ihr vorbeizufahren, erst war er sicher gewesen, es sei Tanja, was vollkommen unlogisch war, denn Tanjawar in New York und er hier in Jerusalem, und trotzdem verlangsamte er auf unkontrollierte Art seine Fahrt und das hysterische Hupen eines Fahrers hinter ihm lenkte ihn ab, und um dem Wagen hinter ihm das Überholen zu ermöglichen und einen Zusammenstoß zu vermeiden, fuhr er an den Straßenrand, und so erfasste er Eva.
    Vielleicht war ihre Ähnlichkeit mit Tanja an diesem Unfall schuld, auch an dem Gefühl der Vertrautheit, als er ihr auf der Straße neben Beth Zafafa half, aufzustehen und sich in den geliehenen Honda Civic zu setzen, und schon davor, als er sie auf der Straße liegen sah, blass und bewegungslos, und er sicher war, sie müsste bewusstlos sein, obwohl er auf den ersten Blick keine Verletzung entdeckte. Er wollte sehen, ob sie atmete, und hob sie hoch, wie man ein Baby trägt, und überlegte noch, ob er die Ambulanz bestellen sollte oder ob es besser war, sie selbst zum Krankenhaus zu fahren, als er plötzlich sah, dass sie die Augen öffnete und ihn mit einem neugierigen Blick anschaute. Er schlug ihr vor, sich auf dem hinteren Sitz hinzulegen, aber sie lehnte es ab und sagte, es gehe ihr gut, der Wagen habe sie kaum gestreift, vielleicht nur ein leichter Schlag am linken Bein, und die ganze Idee mit der Notaufnahme sei lächerlich, doch als sie neben ihm saß, hatte sie plötzlich Schmerzen in den Rippen und er entdeckte Blut auf ihrer Stirn, und statt sie zu ihrem Haus in der Anafastraße in Gilo zu fahren, fuhr er weiter zum Krankenhaus Hadassa am Mount Skopus, obwohl es Krankenhäuser gab, die näher waren. Er erinnerte sich an die lange Fahrt mit all den Stationen unterwegs, das Kloster Mar Elias, Ramat Rachel, Talpioth, die Gegend von Abu Tor, die Cinemathek, das Ben-Hinom-Tal, das Sultanbecken, die Mauern der Altstadt mit dem Jaffator, dem neuen Tor, dem Nablustor, dem Hordustor, und von dort am Rockefeller Museum und Scheich Djarach vorbei, eine Art Via Dolorosa auf dem Weg zum Krankenhaus, während sie neben ihm saß, ganz natürlich, vollkommen fremd und doch so vertraut,und er erinnerte sich an das Gefühl eines Abenteuers, daran, dass etwas Unerhofftes geschah, denn für die vorhersehbaren Dinge hatte er keine Geduld mehr.
    Er erinnerte sich, wie er, obwohl sie nun über Schmerzen klagte, langsamer gefahren war, als sie sich dem

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