Dunkle Seelen
prallte von der gegenüberliegenden Wand ab und fing sich gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass die Gestalt in einem Zimmer verschwand und die Tür hinter sich schloss – leise, als glaube der Betreffende, sie hätte
seine Spur verloren.
Mit einem grimmigen Lächeln blieb sie stehen, dann ging sie zu dem Raum, in dem der Schatten verschwun- den war. Als sie die Faust hob, um an das Holz zu hämmern, stutzte sie, und ihr stockte der Atem.
ALICE PRITCHARD
Alice. Alice, die seit dem Tod ihrer Mitbewohnerin Keiko im Herbsttrimester mit niemandem mehr ein Zimmer geteilt hatte. Alice, der man jetzt für den Rest ihrer schulischen Laufbahn ein Einzelzimmer zugestanden hatte, sofern sie nicht selbst den Wunsch hatte, es mit jemandem zu teilen.
Und jetzt hatte sie den Wunsch. Denn Isabella war eingezogen.
Wer also war der umherstreifende Schatten gewesen? Alice? Isabella? Das ergab keinen Sinn.
Plötzlich war Cassie übel. Es gab nur eine weitere Person, von der sie wusste, dass sie gern durch Schulflure streifte. Eine Person, die nachtragend und wütend auf sie war. Jemand, der einst ein Stipendiat gewesen war. Jemand, der nicht einmal hätte hier sein sollen...
Wut stieg in ihr auf, während der Schock verebbte, und Cassie hämmerte gegen die Tür. Binnen weniger als zwei Sekunden wurde sie aufgerissen.
Isabella sah sie steinern und mit zusammengepressten Lippen an. Mit einem Ausdruck, der den ganzen Trotz in ihrer Seele zusammenzufassen schien, und das war eine Menge. Für einen flüchtigen Moment fragte Cassie sich, ob sie überhaupt an dem Mädchen vorbeikommen würde, dann fiel ihr Blick auf eine Gestalt hinter Isabella. Zornig blickte sie an ihrer Schulter vorbei.
Hochgewachsen, schlaksig, mit kurzgeschnittenem Haar und ein wenig kälteren Augen, als er sie früher gehabt hatte. Er lächelte nicht, aber er wandte auch nicht den Blick ab. Ein Krieg der Gefühle tobte in Cassies Brust. Es tat unerwartet gut, den amerikanischen Jungen zu sehen, trotz allem. Aber sein Verrat, seine unbekannten Motive, der Groll in seinem Blick...
»Ich wusste es«, zischte sie. »Jake Johnson.«
Isabella sagte nichts, aber Cassie konnte hören, dass sie schwer atmete, und sie versperrte noch immer wie ein Leibwächter die Tür. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, die Auserwähltenkarte auszuspielen und sich den Weg in den Raum zu erzwingen. Dadurch würden die beiden bestimmt nicht gesprächiger werden.
Cassie gab sich große Mühe, ihr gefährliches Temperament unter Kontrolle zu halten. Schließlich waren sie einmal Freunde gewesen und sie hatten eine Menge zusammen durchgestanden. Was immer jetzt zwischen ihnen stand, sie war froh, dass es Jake gut ging. Seltsam froh auch, ihn wieder mit Isabella zusammen zu sehen. Nachdem sie langsam tief ausgeatmet hatte, zuckte Cassie die Achseln. Sie wollte keinen Streit.
»Hört mal«, seufzte sie, »erzählt mir einfach, was los ist, bitte? Wo ist Alice?«
Die Spannung, die in der Luft lag, schien wie durch eine Erdleitung abzufließen. Da es nicht zu einer Kon- frontation gekommen war, wirkte Isabella etwas weniger selbstsicher. »Sie ist übers Wochenende nach Ankara gefahren. Ihr Onkel arbeitet dort. Cassie, ich kann dir nicht alles sagen, aber ich kann erklären, was...«
»Nein«, unterbrach Jake sie, legte ihr die Hände auf die Schultern und schob sie sachte beiseite. »Ich werde es ihr erzählen.«
Cassie musterte ihn, während sie in den Raum trat. »Hast du das Messer, Jake?«
»Wer will das wissen? Du oder Estelle?«
Sie rang um Selbstbeherrschung und seufzte tief. »Wir sind ein und dasselbe, Jake; gewöhn dich daran. Du hast meine Frage nicht beantwortet. Hast du das Messer? Hat Ranjit sich deswegen bei dir gemeldet?«
»Was?« Isabella wirkte verwirrt.
Jake bedachte seine Freundin mit einem wachsamen Blick und sagte hastig: »Ich bin Isabellas wegen hier. Ich bin hier, weil ich sie liebe und sie unbedingt sehen musste, okay?«
Cassie betrachtete ihn skeptisch. »Klar. Also, warum bist du mir gefolgt?«
»So wie du mir früher gefolgt bist?«, gab er zurück. »Das geht dich nichts an, Cassie. Ich bin nur froh, dass Isabella in Bezug auf dich die Augen geöffnet worden sind.«
»Jake, nein!«, protestierte Isabella. Sie sah Cassie flehentlich an. »Ich meinte es so, wie ich es gesagt habe: Wir lassen uns nur ein bisschen Freiraum. Cassie und ich brauchten beide ein wenig Zeit für uns selbst, Jake, das ist alles. Hör mal, Cassie, es tut mir leid, dass ich
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