Dunkle Tage
Charakter keine Illusionen. Er ist viel zu feige dazu.“
„Trotzdem ist Ihre Familie damit nicht über jeden Verdacht erhaben.“
„Ich bin nicht naiv. Und ich habe vor, die Augen offen zu halten.“
„Aber unser Hauptaugenmerk wollen wir vorerst auf eine andere Spur richten.“
„Für dieses ‚wir‘ haben Sie etwas bei mir gut.“
Die Tür wurde aufgerissen. „Du bist ja immer noch da!“, knurrte Hermann seine Nichte an. „Und Sie, was machen Sie hier?“
Hendrik und Diana sahen sich an und mussten wieder lachen. Eigentlich gab es überhaupt keinen Grund dazu, aber Hermanns polternde Art war einfach zu komisch.
„Wenn Sie fertig sind, wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie die Fabrik verlassen würden.“
Hendrik packte seine Notizen zusammen, verbeugte sich und ging an dem Industriellen vorbei nach draußen.
„Und richten Sie dem Kommissar aus, er soll endlich die Akten zurückgeben und das versiegelte Zimmer wieder zugänglich machen! Es behindert meine Arbeit, wenn ich nicht an die Unterlagen meines Bruders herankomme!“, rief Hermann ihm nach.
Während Hendrik Diana die Treppe hinunter folgte, bedauerte er, dass er jetzt doch nicht dazu gekommen war, sich die Fabrik anzusehen. Aber vielleicht hatte er etwas Wichtigeres gefunden: eine Verbündete.
9
Gemeinsam begaben sich Hendrik und Diana nach Neukölln. Ihr Schlachtplan sah vor, sich dort zu trennen; Hendrik wollte zusehen, ob er nicht von spielenden Kindern etwas erfahren konnte, Diana würde die Nachbarn aushorchen. Während der Fahrt entdeckten sie überall an den Litfasssäulen rote Fahndungsplakate, die die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Aufklärung des Mordes an Max Unger aufforderten. Hermann würde Gift und Galle spucken, wenn er das sah!
Am Tag hinterließen die Mietskasernen im Rollbergviertel einen noch ungünstigeren Eindruck als bei Nacht. Allein der Lärmpegel in den Höfen war unerträglich. Ein endloser Strom von Autos fuhr zum Be- und Entladen bei den Betrieben vor. Die Schleiferei im dritten Hinterhof hatte wegen der Staubentwicklung Fenster und Türen geöffnet, und ihre Maschinen kreischten um die Wette, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Ein furchtbarer Gestank verpestete die Luft, weil die nebenan ansässige Schmalzsiederei dabei war, Grieben zu machen.
Im vierten Hinterhof trennten sie sich. Diana, ebenso schockiert über die unmenschlichen Wohnverhältnisse wie Hendrik am Tag zuvor, stieg das düstere Treppenhaus hinauf. Sie wollte oben beginnen und sich langsam nach unten vorarbeiten. Etwas beklommen war ihr schon zumute. Es war eine Sache, sich kriminalistische Nachforschungen auszumalen, etwas ganz anderes war es, ohne die geringste Legitimation wildfremden Menschen gegenüberzutreten und sie über private Dinge auszufragen.
Für die Dauer eines Atemzugs verharrte sie vor der ersten Tür, dann gab sie sich einen Ruck. Es ging auch um sie selbst! Solange der wirkliche Mörder nicht gefasst war, stand sie unter Mordverdacht! Entschlossen klopfte sie an der Tür, doch alles blieb still. Scheinbar war niemand zu Hause, was ihre Überwindung zu einer doppelten Enttäuschung werden ließ.
Schon etwas in ihrem Eifer gedämpft, begab sie sich zur nächsten Tür. Alfred Lehmann wohnte hier, wie ein Messingschild verkündete, das so gar nicht zu den ärmlichen Verhältnissen passen wollte. Diana klopfte. Zuerst dachte sie, auch hier wäre niemand zu Hause, dann wurde die Tür so plötzlich aufgerissen, dass sie zusammenfuhr.
Ein betrunkener Mann stierte sie aus glasigen Augen an. „Wat wolln se?“
Diana brauchte eine Weile, bis sie die gelallte Frage verstand. Alkoholdunst und der Gestank von Schweiß wehte ihr ins Gesicht. „Ich … möchte mit Ihnen über die Broschecks reden“, entgegnete sie und zweifelte im gleichen Augenblick daran, dass sie wirklich in die Wohnung dieses Mannes wollte.
„Kommunistenpack!“ Der Betrunkene entblößte seine skorbutbefallenen Zähne. „Machen bloß Dreck un’ Scherereien. Klaun alle als wie die Raben.“
Er machte keine Anstalten, sie in die Wohnung zu bitten. Zum Glück! Soweit Diana durch den Türspalt sehen konnte, würde ihre Standhaftigkeit drinnen auf eine weit härtere Probe gestellt werden. Licht fiel nur durch eine winzige Dachluke, die anscheinend nicht geöffnet werden konnte; im Sommer musste sich die Hitze dort unerträglich stauen. Die Dachschräge verkleinerte den ohnehin beschränkten Lebensraum, so dass es im größten Teil des Zimmers
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