Dunkle Tage
unmöglich war, aufrecht zu stehen. Alles starrte vor Schmutz, und die vergilbte Lithografie des Kaisers an der Wand bewegte sich von den dahinter krabbelnden Wanzen.
„Können Sie mir etwas darüber erzählen, was die Broschecks vorgestern Abend gemacht haben?“, fragte Diana tapfer und bemühte sich zu ignorieren, was ihre Sinne ihr zuschrien.
„Kommunistenpack!“, wiederholte der Mann. „Die Jören machen immazu bloß Lärm.“
Diana sah ein, dass sie nur ihre Zeit verschwendete. „Ja, dann … danke für die Auskunft!“, meinte sie und machte, dass sie davonkam.
Erst zwei Treppen tiefer löste sich ihre Anspannung. Sie schüttelte sich, um den Geruch loszuwerden, von dem sie das Gefühl hatte, dass er noch immer ihre Atemwege verstopfte. Verdrossen betrachtete sie die Tür, vor der sie stehen geblieben war, die Tür neben der Wohnung der Broschecks. Selchow stand auf dem verwitterten Schild. Sie verspürte nicht die geringste Lust, die soeben gemachte Erfahrung zu wiederholen. Was für eine erbärmliche Detektivin sie doch war! Nein, war sie nicht! Trotzig hob sie die Hand und klopfte.
Ächzen und Quietschen war zu hören, dann näherten sich schwere Schritte. Eine Frau von enormen Körpermaßen öffnete die Tür. „Ja?“
„Guten Tag! Diana Escher ist mein Name, ich möchte Sie zu den Broschecks befragen.“
„Sind se von een Amt?“
„Wir untersuchen den Mord an Max Unger“, antwortete Diana ausweichend.
„Ick habe schon jestern allet jesacht, wat ick weeß.“
„Natürlich. Aber es gibt da noch eine oder zwei Fragen … Dürfte ich hereinkommen? Es dauert auch nicht lange.“
Widerstrebend öffnete Frau Selchow ihre Tür.
Auch diese Wohnung war in einem erbarmungswürdigen Zustand. Breite Streifen von herabgelaufenem Regenwasser zierten die Wände. An einigen Stellen war wohl der Versuch zu tapezieren unternommen und mittendrin wieder aufgegeben worden, vereinzelt hingen Tapetenbahnen herunter. Wegen der Feuchtigkeit waren sämtliche Möbel von den Wänden abgerückt. Ein emaillierter Waschständer und mehrere Eimer waren auf strategisch günstige Stellen im Raum verteilt, um Tropfen von der Decke aufzufangen. Stockiger Geruch hing in der Luft. Die Türfüllung war hohl und angefault, der Fußboden morsch.
Auf der Nähmaschine am Fenster lag ein Haufen Filzpantoffel; vermutlich verdiente Frau Selchow sich mit der Anfertigung einen Teil ihres Lebensunterhaltes. Auf dem Herd standen die Reste des Mittagessens. Es hatte „Blauer Heinrich“ gegeben. Graupensuppe, mit anderen Worten. Angesichts der kümmerlichen Mahlzeit dieser Frau verspürte Diana heftige Schuldgefühle, als ihr Magen sich wieder meldete.
Ein seltsames Porzellanensemble nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch, sechs aufgereihte Tassen mit rosa und eine mit blauem Blütenmuster.
„Da teil ick mein Jeld for die Woche drin ein“, sagte Frau Selchow stolz. „For jeden Tach eene Tasse. Die blaue, det is’ die Sonntachstasse. Diese Woche muss ick man mit zehn Mark fuffzich auskommen, und morjen brauch ick wieda Brot, sehn se, deswejen is’ in die Freitachstasse mehr drin.“
Sie schlurfte zum Sofa, und bei jedem Schritt, den sie dabei tat, klapperte aufgrund der Vibrationen das Geschirr im Schrank. Die uralten Federn des Sofas krachten bedrohlich, als Frau Selchow sich darauf niederließ. Sie versank beinahe vollständig in den abgewetzten Polstern.
Diana setzte sich auf einen Stuhl. Den angebotenen Kaffee lehnte sie dankend ab. Zichorienkaffee! Allein der Geruch genügte, um ihr den Magen umzudrehen. „Sie sind Frau Selchow?“, erkundigte sie sich.
„Mathilde Selchow, ja!“
„Wohnen Sie allein?“
„Meen Fritze is’ jleich zu Bejinn det Kriejes jefallen.“
„Das tut mir Leid“, sagte Diana, ehrlich betroffen. „Mein Vater auch. Und mein Bruder wird seither vermisst.“ Sie schluckte, um den Kloß in ihrer Kehle loszuwerden, aber es gelang ihr nicht. Du bist eine klägliche Anfängerin, schalt sie sich. Schon bei der ersten Frage verlierst du jede Sachlichkeit und verirrst dich in deinem eigenen Kummer! Reiß dich zusammen!
„Ach, Kindchen!“, seufzte Mathilde Selchow und tätschelte ihre Hand.
Die mitfühlende Geste trieb Diana das Wasser in die Augen.
Frau Selchow sah, wie sie gegen Tränen ankämpfte, und zog sie in die Arme. „Der Kriech is’ unbarmherzich“, sagte sie.
Seltsamerweise empfand Diana diesen Gemeinplatz als tröstlich. Sie löste sich von der Frau und wischte sich eine Träne
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