Dunkle Tage
überlegte, was sonst noch von Wichtigkeit sein könnte. „Was hat Herr Broscheck angehabt?“
„Sein blauen Leinwandkittel natürlich.“
„Und seine Mütze.“
„Hat jemand von euch Frau Broscheck gesehen an dem Tag?“
„Ja, mittachs.“
„Und was hat sie angehabt?“
„Ihre jraue Bluse und den jrauen Rock, wie imma. Und die Schürze. Die is’ weiß.“
„Jelb“, korrigierte das Mädchen mit den Zöpfen.
„Ist euch irgendwas Ungewöhnliches an den beiden aufgefallen? Waren sie komisch oder so?“
„Frau Broscheck war stinksaua.“
„Weshalb?“
„Meine Mutter sacht, se solln wieda aus die Wohnung jeschmissen wern.“
„Und Herr Broscheck? Wie war er, als er seine Frau gesucht hat?“
„Uffjereecht.“
Hendrik fielen keine weiteren Fragen ein. Auch so war das Gespräch aufschlussreich gewesen. Warum hatten die Broschecks es für nötig gehalten, ihnen eine Lüge über ihr Tun an jenem Abend aufzutischen? Vielleicht gab es dafür eine natürliche Erklärung, trotzdem war es bemerkenswert. „Vielen Dank“, sagte er zu den Kindern.
„Wern die Broschecks jetz vahaftet?“, fragte das Mädchen mit der Piepsstimme.
„Wir wollen ihnen nur ein paar Fragen stellen, ich glaube nicht, dass ihr euch Gedanken machen müsst.“ Hendrik nickte ihnen zum Abschied zu und verschwand, um vor dem Haus auf Diana zu warten. Die Kinder sahen ihm einen Augenblick nach, dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zu.
Ein Stück die Straße hinunter entdeckte Hendrik Anton Broscheck. Der Junge saß auf den Stufen zu einem Kolonialwarengeschäft und war so in die Lektüre eines Groschenromans vertieft, dass er die näherkommenden Schritte überhörte.
„Guten Abend, Anton! Was liest du da?“
Der Junge schreckte auf, aus seinen Träumen gerissen. Er brauchte eine Sekunde, um seinen Blick scharf zu stellen, und dass er Hendrik wiedererkannte, war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen. „Woll’n Sie meine Eltern verhaften?“, fragte er bang.
„Das dürfte ich gar nicht, ich bin nämlich überhaupt nicht von der Polizei.“
„Aber Sie sind gestern mit den anderen Polizisten jekomm’.“
„Der Kommissar ist mein Bruder. In Wirklichkeit unterrichte ich Philosophie an der Universität.“ Spontan streckte Hendrik dem Jungen die Hand hin. „Ich heiße Hendrik, Hendrik Lilienthal.“
Überrumpelt ergriff Anton die Hand. „A … Anton Broscheck“, stotterte er.
Hendrik schielte nach dem Titelblatt des Heftes. „Ach, Rolf Brand, der deutsche Sherlock Holmes! Ich habe zu meiner Zeit immer Nick Carter und Nat Pinkerton verschlungen. Kennst du die?“
Anton nickte, und seine Miene war nicht mehr gar so verschlossen.
Hendrik betrachtete noch immer das Titelblatt. „Eine alte Nummer“, stellte er fest.
„Oskar hat’s mir geliehen. Mein Freund. Ick ... äh, ich darf mir keine Hefte kaufen. Wir ham kein Geld dafür, sagt meine Mutter.“
„Liest du gern?“
Wieder nickte Anton.
„Hast du schon mal den Grafen von Monte Christo gelesen? Oder Ivanhoe ?“
Der Junge verneinte.
„Na, das sollten wir aber ändern! Nächstes Mal bringe ich dir die Bücher mit. Würde dich das freuen?“
Anton starrte ihn nur an und konnte offenbar kaum fassen, dass ein wildfremder Mensch ihm unerreichbare Schätze anbot. Dann, als er merkte, dass Hendrik auf eine Antwort wartete, nickte er so heftig, dass sein Kopf davongesegelt wäre, wäre er nicht fest mit seinem Hals verbunden gewesen.
Hendrik machte Anstalten, sich neben ihn zu setzen. „Darf ich?“
Bereitwillig rückte Anton zur Seite.
„Ich lese auch für mein Leben gern. Als Kind habe ich genau wie du jedes Heft und jedes Buch verschlungen, das mir in die Hände fiel. Bücher sind meine Leidenschaft. Und Karikaturen.“
„Ich mag Kino!“
„Ah, Kino! Ich habe Ernst Lubitsch gesehen, Der Rodelkavalier .“
„Und Der Fall Rosentopf “, ergänzte Anton wie aus der Pistole geschossen. „Filme mit Detektiven und Verbrechern mag ich nämlich am liebsten. Fantomas und Harry Hill und Stuart Webbs und Joe Deebs …“
„Hast du die alle gesehen?“
„Ick helf’ im Stern-Kino aus. Manchmal darf ick ... darf ich dafür umsonst zukucken.“
„Klingt nach einer guten Arbeit.“
„Ich drehe auch Tüten für die Obstverkäufer, das is’ nich’ so toll. Aber immer noch besser als Kohlen schleppen wie Oskar.“ Anton hatte sein Misstrauen aufgegeben und fragte: „Jetzt kann er uns nich’ mehr ’rauswerfen, nich’
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