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Dunkle Tage

Dunkle Tage

Titel: Dunkle Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
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Hatte er den Mord beobachtet? Wie man es auch drehte und wendete: Der geheimnisvolle Absender des Päckchens war eine äußerst mysteriöse Figur. Hendrik nahm sich vor, seinen Bruder bei ihrem Treffen heute Abend nachdrücklich darauf hinzuweisen.
    Trotz allem ließ sich allerdings eine Tatsache nicht wegdiskutieren: Falls Barbara Broscheck unschuldig war, wie kam dann Max Ungers Blut auf ein Messer mit ihren Fingerabdrücken?
    Ein Plakat am hinteren Eingang zum Universitätsgarten nahm Hendriks Aufmerksamkeit in Anspruch. Es rief zu einer Anti-Einstein-Versammlung auf, zum Boykott jüdischer Physik . Was für Dummheiten ließen sich Menschen, die einen akademischen Grad anstrebten, als Nächstes einfallen? Die Bewahrung deutschen Fußpilzes vor nichtarischen Einflüssen? Zornig riss Hendrik das Plakat herunter.
    Mit Wut im Bauch erreichte er das Kastanienwäldchen im Innenhof der Universität und blieb abrupt im Schatten eines Baumes stehen, als er Leander Sebald erblickte, der nicht weit von ihm auf dem Boden saß, den Kopf in den Händen vergraben. Außer ihnen beiden hielt sich kein Mensch im Hof auf. Hendrik trat aus dem Schatten, strebte dem mittleren Eingang zum Westflügel zu und verfolgte dabei aus den Augenwinkeln jede Regung des Studenten.
    Leander sprang auf, als er ihn bemerkte, und stürzte auf ihn zu. „Herr Professor!“ rief er. „Ist es wahr? Stimmt es, was in der Zeitung steht?“
    „Was meinen Sie?“
    „Dass man diese Frau verhaftet hat wegen Mordes an Max Unger?“
    „Ja, das stimmt.“ Hendrik setzte eine ungeduldige Miene auf und machte Anstalten weiterzugehen.
    Leander versperrte ihm den Weg. „Ist sie schuldig?“
    „Warum fragen Sie mich das, wo Sie doch die Wahrheit kennen?“
    „Ich kenne sie nicht!“
    „Aber sie interessiert Sie auch nicht. Es ist Ihnen gleichgültig, ob ein schuldiger oder ein unschuldiger Mensch für eine Tat bestraft wird, solange dadurch Ihre Gesinnungsfreunde geschützt bleiben, das haben Sie ja bereits deutlich gemacht.“
    Leander schlug die Hände vors Gesicht. „Mein Gott, was soll ich nur tun!“
    Hendrik tat, als sei er in Eile.
    „Bleiben Sie! Bitte!“, flüsterte der Student, und in seiner Stimme lag eine solche Qual, dass es Hendrik unmöglich war, sein Spiel fortzusetzen.
    „Wenn Ihnen etwas auf der Seele liegt, sollten Sie es loswerden.“
    „Es … hat nichts mit dem Mord an Herrn Unger zu tun.“
    „Tatsächlich?“
    Leander presste die Fäuste gegen seine Schläfe. „Es kann nicht sein“, flüsterte er. Hilfesuchend sah er Hendrik an. „Wie kann ich etwas tun, das anderen schadet, wenn ich doch die Wahrheit nicht kenne?“
    Hendrik dachte lange nach, ehe er eine Antwort gab, weil er spürte, dass echte Not hinter dieser Frage steckte. „Lessing sagt, dass es nicht der vermeintliche Besitz der Wahrheit ist, sondern das Streben danach, das den Wert des Menschen ausmacht“, sagte er schließlich. „Wir sind alle fehlbar. Es ist nicht wichtig, ob Sie Recht haben oder nicht, sondern wie ernsthaft Sie darum ringen, die Wahrheit herauszufinden. Selbst um den Preis von Unannehmlichkeiten.“
    Leander gab keine Antwort.
    „Was quält Sie?“
    „Es ist nicht dieser Mord.“
    Hendrik fiel die seltsame Betonung des Satzes auf, und aus irgendeinem Grund fröstelte er plötzlich.
    „Wir müssen für unser Tun Verantwortung übernehmen, haben Sie gestern gesagt … und dass es keine Instanz über dem eigenen Gewissen gibt …“ Leander verfiel wieder in dumpfes Brüten. „Ich kann nicht am Landwehrkanal vorübergehen, ohne ihr misshandeltes Gesicht zu sehen …“
    Hendrik hielt den Atem an. „Rosa Luxemburg?“, fragte er ungläubig.
    „Bestimmt hat es nichts mit dem Mord an Herrn Unger zu tun. Aber die Briefe … Thor …“
    „Warum erzählen Sie mir nicht einfach alles? Von Anfang an?“
    Nach einer langen Pause begann Leander zu sprechen. „Es … es war ein Mittwoch … ich war zu Hause … Ludwig …“ Er zögerte. „Er sorgt sich um Deutschland“, verteidigte er ihn, obwohl niemand einen Einwand gemacht hatte.
    Hendrik fiel ein Wort Nietzsches ein: Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen , aber dies war nicht der Augenblick für kluge Bemerkungen, also behielt er den Gedanken für sich.
    „Ende 1918 haben wir uns für die Freikorps anwerben lassen“, fuhr Leander fort. „Wir waren an den Januarkämpfen beteiligt. Hauptmann Pabst von der Garde-Kavallerie-Schützen-Division ist auf uns aufmerksam

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