Dunkle Tage
geworden. Er hielt große Stücke auf uns, besonders auf Ludwig. Er sah, dass wir vertrauenswürdig waren und das Schicksal Deutschlands uns beschäftigte. Nach und nach hat er uns verantwortungsvollere Aufgaben übertragen. Wir haben geholfen, die Post von Liebknecht zu überwachen, sein Telefon abzuhören und dergleichen.“
Leander fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. „Ludwig traf mich an jenem Mittwoch in einem Lokal. Eigentlich wollten wir uns einfach einen netten Abend machen. Heute wird den roten Volksverhetzern das Maul gestopft, sagte er. Ich fragte nicht, woher er das wusste. Ludwig hatte immer schon gute Beziehungen zu den Militärs.
Wir gingen zum „Eden-Hotel“, wo Hauptmann Pabst sein Stabsquartier bezogen hatte. Wegen der guten Kontakte von Ludwig wurden wir zu ihm gelassen und boten unsere Mithilfe an. Wir mussten eine ganze Weile draußen warten, weil Pabst noch ein paar Telefonate führte. Zu der Zeit brachten sie gerade die Luxemburg und einen anderen Mann. Liebknecht hielten sie bereits fest. Wir wurden zur Unterstützung der Soldaten, die die Ausgänge bewachten, nach unten geschickt und postierten uns am Nebenausgang. Dort wurde Liebknecht hinausgeführt. Wir … alle beschimpften und bespuckten ihn. Dann sahen wir zu, wie Hauptmann Pflugk-Harttung – ein Freund von Ludwig – und seine Männer ihn in ein Auto setzten. Ein Soldat kam angerannt und schlug mit seinem Gewehrkolben nach Liebknecht. Das Auto fuhr los. Ein anderer Mann sprang kurz auf das Trittbrett und hieb ihm die Faust ins Gesicht. Dann sprang er wieder ab, und das Auto verschwand.“
Leander verstummte. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Geschichte zu erzählen. Hendrik war klug genug, das Geständnis nicht zu unterbrechen.
„Später – vielleicht eine halbe Stunde danach – kamen die Männer zurück. Pflugk-Harttung lachte und sagte zu meinem Bruder, Liebknecht sei auf der Flucht erschossen worden. Und jetzt wäre die Luxemburg dran. Sie brachten sie raus. Der Soldat von vorher verpasste auch ihr einen Schlag mit dem Kolben. Sie stürzte, bewusstlos … der Soldat schlug noch einmal zu … die Männer warfen sie ins Auto … sie hatte einen Schuh verloren.“ Leander starrte ins Leere und wiederholte, als sei dieses Detail von besonderer Wichtigkeit: „Sie hatte einen Schuh verloren. Ich … ich sagte zu meinem Bruder, ich wolle gehen. Ich wollte nichts damit zu tun haben. Ich meine, sie war eine bolschewistische Agitatorin, aber …“ Wieder leckte er sich über die Lippen, und Hendrik begriff, dass der schlimmste Teil noch bevorstand.
„Wir … mein Bruder und ich gingen ein paar Schritte die Straße entlang und stritten uns. An der Ecke Nürnberger Straße stand ein Mann im Dunkeln, ein großer Kerl, der sich verdächtig benahm. Wir riefen ihn an. Er trat ins Licht, und wir erkannten Leutnant Souchon. Seht zu, dass ihr verschwindet, sagte er, oder steht wenigstens nicht im Weg! Ehe wir ihn noch fragen konnten, was er meinte, hörten wir das Auto vom Hotel herankommen. Souchon drängte uns beiseite und zog eine Mauserpistole.“
Leanders Augen glänzten fiebrig. „Das Auto wurde langsamer, als wüssten die Fahrer, was passieren würde. Die Luxemburg lag bewusstlos auf dem Rücksitz. Souchon … hielt ihr seine Waffe an die Schläfe und drückte ab. Er fluchte, weil er vergessen hatte, die Pistole zu entsichern. Er entsicherte und drückte noch einmal ab …“
Leanders Gesicht war grün angelaufen, doch er riss sich zusammen und erzählte weiter, als dürfe er jetzt, da er so weit gekommen war, auf keinen Fall aufhören. „Souchon sprang ab und verschwand. Die Soldaten sahen und erkannten uns. ‚Packt mal mit an!‘, sagten sie.“ Er lachte verzweifelt. „Packt mal mit an!“ Jetzt presste der Student die Hände in die Augenhöhlen, als könne er dadurch verhindern zu sehen, was nur er sah. „Ludwig fasste ihre Schultern. Ich stand daneben und starrte auf Teile von Haut und Knochen, die auf den Rücksitz des Wagens gespritzt waren. Dann … dann fiel ihr Kopf zur Seite, und ihr blutverschmiertes Haar streifte meine Hand …“ Er atmete schwer. „Und dann bin ich weggerannt.“
Zum ersten Mal seit Beginn der Erzählung wagte Hendrik, sich zu rühren. Er fühlte sich elend. „Ich kann Ihnen keine Absolution erteilen“, sagte er heiser. „Aber es ist ein erster Schritt, nicht länger die Augen vor der eigenen Verantwortung zu verschließen. Denken Sie darüber nach, ob Sie sich als Zeuge
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