Dunkle Tage
Erschöpfung eingeschlafen. Es war ein Schock für ihn, beim Aufwachen einen Polizisten vor sich zu sehen. Hastig rappelte er sich hoch. „Was … was woll’n Sie?“, fragte er.
Und dann, zu Hendriks Überraschung, drehte Gregor sich zu der Frau des Arbeiters um und sagte in seiner kühlen Amtsstimme: „Barbara Broscheck, hiermit verhafte ich Sie wegen Mordes an Max Unger.“
2.
Freitag, 12. März bis Montag, 15. März 1920
Noch niemals haben die Vorkämpfer des Geistes so inbrünstig die gepanzerte Faust geküßt.
Georg Friedrich Nicolai
12
Jemand rief seinen Namen, was Hendrik veranlasste, sich umzudrehen. Überrascht erkannte er, wer ihm da in den Ehrenhof der Universität folgte. „Anton! Musst du nicht in der Schule sein?“
Der Junge war vom Laufen außer Atem. „Da geh’ ick nich’ hin, solange meine Mutter im Gefängnis is’“, stieß er hervor. „Sie is’ unschuldig. Bitte, helfen Sie uns!“
„Du überschätzt meine Möglichkeiten. Ich bin kein Kriminalist.“
„Ihr Bruder is’ Polizist. Bitte, Sie glauben doch, dass meine Mutter unschuldig is’, nich’ wahr?“
Es fiel Hendrik schwer, dem Jungen in die Augen zu sehen. „Ich muss zugeben, es gibt eine Menge Dinge, die mir seltsam vorkommen. Aber man hat ihre Fingerabdrücke auf dem Messer gefunden, das ist ein schwer wiegendes Indiz.“
„Sie is’ unschuldig“, beharrte Anton. „Wenn sie wütend is’, sagt sie manchmal so Sachen, dass sie wen umbringt und so, aber sie würde das nie tun. Bitte!“
Der Appell verfehlte seine Wirkung nicht, zumal Hendrik überzeugt war, dass sein Bruder die falsche Person festgenommen hatte. Auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie die Fingerabdrücke auf die Tatwaffe gekommen waren; es gab zu viele Ungereimtheiten in dem Fall.
Da war einmal die offenkundige Frage: Wer war der mysteriöse Absender des Päckchens, und was für ein Ziel verfolgte er damit? Warum verbarg er seine Identität? Natürlich war es denkbar, dass der Unbekannte mit den Broschecks auf vertrautem Fuß stand und fürchtete, für seine Tat geächtet zu werden. Aber würde ein mittelloser Arbeiter die Belohnung ausschlagen?
Und dann: Wenn Frau Broscheck die Tat begangen hatte, warum hatte sie das Messer auf eine Weise fortgeworfen, dass jedermann es finden konnte? Panik? Reue? Sie hätte es nur im Kanal verschwinden lassen müssen, und es wäre nie entdeckt worden.
Schließlich war da noch die Frage des Blutes. Wer immer Max Unger getötet hatte, musste bis zur Halskrause voll Blut gewesen sein. Wie hatte Barbara Broscheck bis nach Neukölln gelangen können, ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde? Andersherum gefragt: Woher hätte sie, die kaum mehr besaß als das, was sie auf dem Leibe trug, Kleidung zum Wechseln haben sollen?
Nein, die augenblickliche Lösung des Falles befriedigte ihn keineswegs. Und es wurmte ihn, dass Gregor anscheinend keine Anstalten machte, andere Spuren zu verfolgen.
Um Zeit zu gewinnen, ging er mit Anton zum Ginkgobaum am Westflügel der Universität, wo etwas weniger Betrieb herrschte, und erkundigte sich: „Wie hast du mich gefunden?“
„Sie ham gesagt, Sie arbeiten an der Universität.“
„Wusstest du denn, wo die ist?“
„Ick ... ich war noch nie so weit in Berlin, jedenfalls nich’ richtig. Nur mit der Schule, im Museum. Und einmal ham wir ’n Ausflug in den Grunewald jemacht. Ich hab’ Leute auf der Straße jefragt.“
Wenn Hendrik später daran zurückdachte, erkannte er, dass dies der Augenblick gewesen war, in dem er sich entschied. Letzten Endes waren es nicht die Ungereimtheiten des Mordfalls, die ihn dazu brachten, sich einzumischen. So interessant das Problem auch vom intellektuellen Standpunkt her sein mochte, die Aufklärung von Verbrechen war nicht sein Metier. Es war die Erkenntnis, dass dieser achtjährige Junge, der zeit seines Lebens kaum aus seinem Kiez herausgekommen war, einen langen Fußmarsch durch unbekanntes Terrain auf sich genommen hatte, weil er darauf vertraute, dass ein fremder Mann, der ein paar freundliche Worte über Bücher und Filme mit ihm gewechselt hatte, ihm helfen würde. Vor diesem kindlichen Glauben kapitulierte Hendriks Sarkasmus.
„Ich will dir keine Hoffnungen machen, die womöglich später enttäuscht werden“, sagte er, „du musst verstehen, dass ich in dieser Angelegenheit nicht viel zu sagen habe. Aber ich verspreche dir, nicht untätig zuzusehen, wie deine Mutter für etwas büßen muss, das sie nicht
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