Dunkle Tage
begangen hat.“
Anton strahlte, als wäre der Fall damit gelöst. Hendrik hoffte, dass er ihm nicht eines Tages ein böses Erwachen bescheren musste. „Na schön“, meinte er. „Wenn du schon mal hier bist, möchte ich dich jemandem vorstellen. Komm mit!“
Sie gingen durch die Säulenhalle des Südeingangs und den Gartenhof. Hendrik bemühte sich, dem Jungen die Befangenheit zu nehmen, indem er ihm erklärte, wie die neuen Flügelbauten dem alten Universitätsgebäude angeglichen worden waren. Anton stellte kluge Fragen. Es war ein Verbrechen, ein solches Potenzial brachliegen zu lassen, ein Verbrechen, das einem Mord in nichts nachstand.
„Wer is’ eigentlich der Mann mit dem spitzen Bart?“, fragte der Junge unvermittelt. „Auch ein Polizist?“
„Welcher Mann?“
„Na, der Ihnen immer folgt. Soll er Sie beschützen?“
Wie angewurzelt blieb Hendrik stehen. „Ein Mann, der mir folgt? Bist du sicher?“
Anton nickte.
„Wo hast du ihn gesehen?“
„Vorhin stand er hinterm Denkmal. Und gestern hat er in eim Hauseingang jewartet, bis wir aufgehört ham zu reden, und is’ Ihnen nachgegangen.“
„Wie sah er aus?“
„Wie ’n Arbeiter. Aber man konnte gleich sehen, dass er keiner war. Eher ’n Soldat.“
Hendrik fluchte innerlich. Er hatte sich gestern also nicht getäuscht! Er erinnerte sich wieder an den Mann, den der Junge beschrieb, und mit seinen schlichten Worten hatte Anton ihm zugleich klargemacht, was ihm selbst so verdächtig vorgekommen war: Die Diskrepanz zwischen der Person, als die der Mann erscheinen wollte, und der, die er offensichtlich war. Aus welchem Grund verfolgte ihn der Kerl? „Ist er noch in der Nähe?“
Suchend sah Anton sich um. „Nee.“
Hendrik bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. „Naja, spielt keine Rolle. Lass uns weitergehen.“ Er konnte jedoch ein unbehagliches Gefühl nicht unterdrücken, und ein Ziehen zwischen den Schulterblättern veranlasste ihn, sich ständig wachsam umzusehen.
Sie betraten die Universitätsbibliothek. Die vielen Bücher und die ehrwürdige Aura schüchterten den Jungen ein. Sein Gesicht nahm einen stumpfen Ausdruck an, ein automatischer Schutzmechanismus, der sich vermutlich schon in manch schwieriger Situation bewährt hatte.
Noah begrüßte die beiden und deutete auf einen Artikel in der Morgenausgabe des Berliner Tageblattes , in dem Minister Haenisch seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass der Fall Nicolai nur ein Glied in einer Kette ähnlicher Vorfälle sei und höhere Lehranstalten und Universitäten die gefährlichsten Herde der gegenrevolutionären Bewegung waren. „Hast du schon gesehen?“
Hendrik nickte. Er konnte der Aussage nur zustimmen. Und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er sich Sorgen um seinen eigenen Arbeitsplatz machte. Die gestrige Vorlesung würde nicht ohne Wirkung bleiben, so viel war sicher. Der Pedell hatte ihm bereits ausgerichtet, dass der Rektor ihn am Nachmittag zu sprechen wünschte.
Hendrik schüttelte die unangenehmen Gedanken ab und stellte seinen jungen Begleiter und den alten Mann einander vor. „Anton, das ist Noah Rosenthal, der belesenste Bibliothekar von ganz Berlin. Er hat mehr Bücher im Kopf als andere im Regal. Noah, das ist Anton Broscheck, ein junger Mann mit viel freiem Platz im Kopf für Bücher. Ich dachte, du zeigst ihm mal ein paar unserer Schätze.“
„So, dachtest du!“ Noah musterte den Jungen, auf dessen Wangen sich vor Aufregung rote Flecke abzeichneten, und zwinkerte ihm zu. „Na, dann komm mal mit, jingl! Weißt du, dass wir hier die Bibliothek der Brüder Grimm haben? Oder bis zu schon zu alt für Märchen? Aber die Grimms haben ja auch Sagen herausgebracht, nicht wahr?“
In ihr Gespräch vertieft, gingen die beiden durch die Regalreihen, und Hendrik stellte schmunzelnd fest, dass der Junge ihn vollkommen vergessen hatte.
Während er zurück zum Universitätsgebäude ging, arbeitete sein Hirn bereits wieder an dem Mordfall. Antons Bitte hatte im Grunde nur etwas aufgeschreckt, das die ganze Zeit unter der Oberfläche seines Verstandes geschlafen hatte.
Der Absender des Päckchens musste jemand sein, der Barbara Broscheck mit der Tatwaffe in Verbindung bringen konnte. Aber auf welche Weise? War es jemand, der sie kannte, das blutbefleckte Messer in ihrer Wohnung entdeckt und seine Schlüsse gezogen hatte? Oder wusste er gar nicht, wer sie war, sondern hatte sie in der Nähe des Tatorts beim Wegwerfen des Messers gesehen?
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