Dunkle Tage
manchmal sehne ich mich doch nach dem Feuer von damals. Nach der unbekümmerten Selbstverständlichkeit, mit der ich – mit allen Fehlern und Vorurteilen – die Welt aus den Angeln heben wollte.“
„Wodurch haben Sie dieses Feuer verloren?“
„Durch den Krieg.“ Er rührte eine ganze Weile ziellos in seiner Tasse. „Ich war Pazifist, aber als alle verrückt spielten und den Krieg jubelnd begrüßten, habe ich angefangen, an allem zu zweifeln, auch an mir selbst. Wie konnten die Leute mehr als vierzig Jahre Frieden wegwerfen für einen Haufen hohler Phrasen? Wie konnten Gelehrte und Philosophen begeistert in das Tamtam einschlagen?“
Er merkte, dass er immer noch rührte, und legte den Löffel beiseite. „Eine Weile war ich vollkommen orientierungslos, bis es mir gelang, endlich wieder Stellung zu beziehen, auch in meinen Vorlesungen. Was dazu führte, dass ich eingezogen wurde, im Juni 1917. Ich war bereit, eher ins Zuchthaus zu gehen als an die Front, aber meine Aufsässigkeit hatte zur Folge, dass auch mein Bruder eingezogen wurde. Vermutlich fürchteten sie, er hätte sich an meinen Ideen angesteckt wie an einer Krankheit. Ich fühlte mich schuldig. So viele meiner Freunde waren gefallen, während ich sicher daheim saß! Ich wollte Gregor nicht allein lassen.“
Ohne es zu merken, hatte er wieder in der Tasse zu rühren begonnen, aber Diana machte ihn nicht darauf aufmerksam. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper.
„Ich war nur fünf Wochen an der Front, ehe mich eine Kugel erwischte. Genug, um schlaflose Nächte zu haben. Gregor musste bis zum Ende durchhalten. Er redet nie darüber.“
Erst jetzt nahm er Diana wieder wahr und erinnerte sich daran, was er eigentlich hatte sagen wollen. „Während der endlosen Tage im Schützengraben habe ich mich gefragt, ob so etwas wie Verständigung überhaupt möglich ist. Als ich zurückkam, glaubte ich an gar nichts mehr. Komischerweise habe ich durch die gestrige Vorlesung meinen Glauben irgendwie zurückgewonnen. Und was noch komischer ist: Seitdem fürchte ich mich nicht mehr vor den Konsequenzen. Das kommt Ihnen seltsam vor, nicht wahr, dass man so im Nebel herumirrt und an sich selbst zweifelt. Sie sind immer geradeheraus.“
Diana schüttelte den Kopf. „Ich bin gar nicht so streitsüchtig wie Sie glauben. Ich bin sehr behütet aufgewachsen, wissen Sie. Dann kam der Krieg, mein Vater und mein Bruder mussten an die Front, und ich habe es als Chance begriffen. Ich wollte etwas Sinnvolles tun. Waffenproduktion kam für mich nicht infrage, wenn ich auch immer ein schlechtes Gewissen hatte, weil mein Bruder und mein Vater da draußen waren und ich sie nicht unterstützte. Aber es wurden dringend Weichensteller gesucht, also bin ich Weichenstellerin geworden, später Schaffnerin. Dann fiel mein Vater an der Somme, mein Bruder galt als vermisst, meine Mutter wurde krank. Grippe. Plötzlich musste ich für sie stark sein. Ich hatte wenig Zeit für Tränen. So, wie der Krieg Sie sprachlos gemacht hat, hat er mich politisiert. Ich bewunderte Rosa Luxemburg. Was für eine Kraft in dieser Frau! Bei der Nachricht von ihrem Tod habe ich zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters geweint.“
„Haben Sie je wieder von Ihrem Bruder gehört?“
Sie schüttelte den Kopf. „Am Totenbett meiner Mutter habe ich behauptet, es sei eine Nachricht von ihm eingetroffen. Erst viel später habe ich begriffen, dass sie meine Lüge durchschaut hat. Sie wusste, dass ich es war, die den Trost brauchte, und tat so, als würde sie mir glauben. Sie lag im Sterben und fand noch die Kraft, mich zu trösten!“ Eine Träne tropfte aus ihren Wimpern.
Hendrik zögerte, dann stand er auf und nahm sie in den Arm. „Es tut mir sehr Leid“, sagte er.
Seine Berührung war ihr nicht unangenehm, trotzdem machte sie sich schließlich los. Nach einem Augenblick der Verlegenheit setzten sie sich wieder.
„Plötzlich war ich allein in unserer Wohnung. Ich habe gewartet, dass mein Bruder zurückkommt. Aber Tag um Tag verging, ohne dass sich etwas ereignete. Ich glaube, hätte ich erfahren, dass er tot ist, wäre es leichter gewesen. Die Ungewissheit ist das Schlimmste. Tante Käte hat sich hin und wieder um mich gekümmert, und Onkel Max und Onkel Hermann hielten es wohl für ihre Pflicht, mir zu helfen.“
„Seitdem wohnen Sie bei den Ungers.“
„Aber nicht mehr lange!“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich suche mir eine Wohnung. Nicht gerade leicht bei der Wohnungsknappheit, ich
Weitere Kostenlose Bücher