Dunkle Verlockung (German Edition)
Jessamy eines wusste, dann war es, dass Engel ihre Kinder wirklich liebten. Auch wenn Jessamy mit Rhoswens Schuldgefühlen nicht hatte leben können, an der Liebe ihrer Mutter hatte sie nie gezweifelt.
»Er wäre besser, wenn die Früchte über Nacht einweichen könnten«, fuhr sie fort, während ihr Herzklopfen etwas nachließ. »Aber ich möchte nicht warten.« Sie nahm den Kessel vom Herd und goss etwas von dem inzwischen heißen Wasser über die getrockneten Aprikosen, Beeren und Orangenspalten. »Ich weiß ziemlich viel, Galen.« Sie zwang sich, dem Albtraum ins Gesicht zu sehen, weil er nicht einfach verschwinden würde. »Ich bin die Hüterin unserer Geschichte.« In ihrem Kopf befanden sich eine Million Zeitfragmente und noch mehr.
Nachdem er aufgestanden war und sein Schwert an eine Wandhalterung gehängt hatte, begann Galen damit, sich in der Mitte des Zimmers langsam zu strecken, während sie weiterredeten. Offenbar hatte sie ihn vorhin unterbrochen, und darüber war sie froh, denn so konnte sie ihm nun bei den Übungen zusehen. Trotz all ihrer Argumente für die sichere Seite war sie doch eine Frau und sehnte sich nach etwas, an dem sie vielleicht für immer zerbrechen würde … und er war ein schöner Mann.
»Aber«, sagte er, während er sich in einer Übung drehte, bei der sich sein Bauch fest zusammenzog und die weißgoldenen Fasern seiner Flügel im Licht der Lampen glitzerten, »wir brauchen unsere Aufmerksamkeit nur auf die Dinge zu richten, die im Augenblick etwas Wichtiges beeinflussen könnten.«
Konzentrier dich, Jessamy. »Unter den Mächtigen spielen sich zu jeder Zeit Tausende kleiner politischer Aktivitäten ab.« Nur wer sich in diese Welt vertiefte, konnte die labyrinthischen Tiefen der Vorgänge dort nachvollziehen. Was sie auf einen Gedanken brachte … »Wenn du Raphaels Waffenmeister werden sollst, musst du alles darüber wissen.« Der Erfolg würde ihn ihr wegnehmen, ihn aus der Zufluchtsstätte führen, aber sie würde sich diesem wundervollen Geschöpf niemals in den Weg stellen.
»Dmitri hat mir auch geraten, mich an dich zu wenden.«
»Damit hatte er recht«, meinte sie, während sie sich fragte, ob Galen das, was sie zu berichten hatte, auch würde verstehen können. Sie beging nicht den Fehler, ihn für dumm zu halten, oh nein. Gleich nachdem sie zum ersten Mal die Wirkung dieser Augen gespürt hatte, die sie an einen ungewöhnlichen grünen Edelstein namens Heliodor erinnerten, hatte sie, von Neugier getrieben, mit einigen Leuten aus Titus’ Herrschaftsgebiet gesprochen.
Mit ein wenig geschickter Gesprächsführung hatte sie in Erfahrung gebracht, dass Galen nicht nur als meisterlicher Taktiker galt, sondern zudem ein Mann war, der Loyalität schaffen und Armeen in Feindesgebiet führen konnte – und als Sieger zurückkehrte. Titus war außer sich vor Wut darüber, ihn verloren zu haben. Auf Orios hingegen traf das nicht zu, er wäre über kurz oder lang vom aufstrebenden Galen als Waffenmeister ersetzt worden. Daher war es eher als Kompliment von Orios zu werten, dass er über Galens Weggang nicht traurig war. Und Orios galt schon als der Beste seines Kaders.
Wie sie jedoch erfahren hatte, war Galens Denkweise geprägt von klaren Linien, von Gut und Böse mit nur gelegentlichen Grauschattierungen. Er würde sein Blut für jene geben, denen er die Treue geschworen hatte, und eine einmal besiegelte Zugehörigkeit würde von Dauer sein.
Die Frau, die er für sich erwählt, wird nie fürchten müssen, betrogen zu werden.
Ganz bewusst fasste sie den Stiel des Holzlöffels, mit dem sie gerade die Zutaten umrührte, etwas lockerer und holte tief Luft, doch bevor sie etwas sagen konnte, ergriff er das Wort. »Auf die kleinen Intrigen brauchen wir uns nicht zu konzentrieren.« Er breitete die Flügel aus und legte sie sorgfältig wieder zusammen. »Deine persönlichen Beziehungen zu anderen Engeln kannst du allesamt außen vor lassen. Deine Position als solche ist unantastbar; man denke sich nur, welche Auswirkungen es auf die Kinder hätte, wenn dir etwas zustoßen würde. Selbst Feinde würden sich verbünden, um dich zu rächen. Wenn jemand solche Vergeltungsmaßnahmen riskiert, muss viel auf dem Spiel stehen.«
Sie wollte den Teig gerade in einen kleinen Topf geben – das einzige Gefäß, das sie zum Backen gefunden hatte – , da hielt sie inne. »Du hast recht.« Sie trug so viel Wissen in sich, dass sie sich manchmal darin verlor und das Offensichtliche nicht
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