Dunkle Visionen
Montagmorgen von zu Hause abgeholt. Allerdings hatte sie nicht gewusst, dass sie ins Leichenschauhaus fahren würden. Sie war noch nie mit ihm im Leichenschauhaus gewesen; er hatte sie immer nur an die Schauplätze der jeweiligen Verbrechen mitgenommen.
Natürlich war sie schon oft in der Gerichtsmedizin gewesen, jedoch nicht, um den Toten einen Besuch abzustatten, sondern weil Jassy dort arbeitete.
Trotzdem ging Madison nicht oft diese Flure hinunter. Heute würde sie bei ihrer Schwester reinschauen, bevor sie zum Essen gingen.
Jimmy warf Madison einen Blick zu, und sie schaute zurück. Er hatte gerade seinen siebenunddreißigsten Geburtstag gefeiert, aber er sah immer noch aus wie ein Junge mit seinen ständig zerrauften rötlichen Haaren, den Sommersprossen und den warmen braunen Augen. Doch dieses Bild trog. Er konnte unerbittlich, schonungslos und zäh wie Leder sein, wenn es darum ging, einen Mörder zur Strecke zu bringen. Glücklicherweise hatte ihm sein harmloses Äußeres schon ein paar Mal aus der Klemme geholfen, als er sich auf nicht ganz legale Weise die Informationen verschafft hatte, die er brauchte.
„Ich weiß, dass es eine Zumutung ist, Madison, aber tu mir den Gefallen, okay? Ich habe so eine dumpfe Ahnung diesmal.“
„Okay.“
In einem Leichenschauhaus roch es immer wie in einem Leichenschauhaus, auch wenn sich die Putzkolonne noch so viel Mühe gab. Der Anblick der Kacheln und des blitzenden Chroms verursachte Madison eine Gänsehaut.
Gruslig hätte Carrie Anne es hier genannt.
Jimmy machte eine Tür auf, und sie betraten einen großen Raum. Ein Autopsieraum, dachte Madison. Sie sah blitzende Bahren aus Stahl, über denen Mikrofone hingen. In einer entlegenen Ecke sezierte eine Vierergruppe in grünen Kitteln eine männliche Leiche. Daneben standen zwei Anzüge – Polizisten in Zivil? –, schauten zu und lauschten dem Autopsiebefund, den ein Arzt in ein Mikrofon sprach.
Tod. So verdammt unpersönlich. Er tilgte auch noch die letzten Spuren von Würde.
„Madison.“ Jimmy tippte ihr auf die Schulter. Er sprach leise. „Gleich hier.“
Er führte sie durch eine Tür in einen Nebenraum. Auf einem der Stahltische lag ein Klumpen, über den ein grünes Tuch gebreitet war. Daneben stand wartend eine mausgraue Pathologieassistentin. Jimmy schaute Madison an.
Sie schaute von ihm zu dem Klumpen und spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunterlief.
Jimmy hatte seine Ahnung nicht getrogen. Sie konnte schon etwas fühlen. Etwas, das sie nicht fühlen wollte … aber sie spürte, dass sie gleich etwas sehen würde.
Oh Gott.
Aber vielleicht konnte sie ja helfen.
Und doch gefiel es ihr nicht. Es gefiel ihr ganz und gar nicht.
Jimmy räusperte sich. „Mach dich auf das Schlimmste gefasst“, warnte er Madison und nickte der Pathologieassistentin zu.
Die Frau zog das Tuch weg. Madison drehte sich der Magen um. Der Klumpen war ein Kopf. Er war direkt unterhalb des Kinns vom Körper abgetrennt worden. Die Augen waren weggefressen. Das Fleisch war aufgeschwemmt und so käsig, dass es unecht wirkte, es hätte genauso gut aus einer Werkstatt für Spezialeffekte stammen können.
Madisons Kehle entrang sich ein erstickter Laut, sie presste die Hände auf den Bauch und schloss die Augen in der Befürchtung, ohnmächtig zu werden. Die Knie wurden ihr weich, gleich würde sie fallen …
Plötzlich fühlte sie sich von zwei starken Armen umfangen. Zu ihrem Erstaunen hörte sie Kyles Stimme.
„Jimmy, was zum Teufel ist los mit Ihnen, wie können Sie sie in so etwas mit hineinziehen?“ Er war fuchsteufelswütend.
„Ach, kommen Sie, Kyle! Regen Sie sich nicht auf. Vielleicht kann sie uns ja helfen.“
„Jimmy, Himmelherrgottnochmal!“ Kyle stützte sie noch immer.
„Kyle, verdammt nochmal, das hier ist Madison, kein zartbesaitetes junges Mädchen. Ihre Schwester ist eine der führenden forensischen Wissenschaftlerinnen hier. Sie weiß, wie Blut aussieht. Es ist nicht so, dass ich sie mit irgendetwas geschockt hätte.“
„Verdammt, Jimmy, dieser Kopf schockt ja sogar mich, und ich kann Ihnen versichern, dass ich schon eine Menge üble Sachen gesehen habe.“
Madison wollte nicht, dass sie sich ihretwegen in die Haare gerieten, und sie wollte auch nicht auf den Kopf schauen.
Aber sie riss sich zusammen und straffte die Schultern, entschlossen, die Sache ohne Kyles Hilfe durchzustehen.
Noch während sie auf den Kopf schaute, spürte sie, wie sich eine eisige Kälte über
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