Dunkle Visionen
sie legte, und dann verschwamm der Kopf vor ihren Augen; sie sah ihn nicht mehr. Sie sah eine schöne, vor Leben sprühende rothaarige Frau. Sie war sich nicht sicher, ob es sich um dieselbe Frau handelte, die sie schon vorher gesehen hatte, aber falls nicht, so war sie ihr doch von der Größe und der Gestalt her ähnlich, und sie hatte dieselben wunderschönen roten Haare. Sie lachte, als sie eine Autotür öffnete und hinters Steuer glitt. Irgendjemand war bei ihr. Sie fuhren … auf den Highway. Dann waren sie auf einer anderen Straße. Da war ein großes Vogelnest auf einem Telefonmast an der Straße. Rechts und links von der Straße war Wasser …
Sie fuhren an einem Schild vorbei. Lake Surprise. Madison erkannte die Stelle, die sie passierten; es war die U.S.1 auf dem Weg nach Key Largo.
„Die Keys“, sagte sie plötzlich.
„Was?“ fragte Kyle.
„Die Keys“, wiederholte sie, dabei noch immer auf den Kopf starrend.
„Würden Sie das bitte wieder zudecken?“ verlangte Kyle von der Pathologieassistentin.
Die Frau schickte sich an, seiner Bitte nachzukommen.
„Einen Moment noch“, protestierte Jimmy. „Madison sieht etwas.“
Das Laken wurde hochgezogen.
„Sie sieht nichts mehr“, schnappte Kyle.
Was stimmte, aber woher er das wissen konnte, war Madison schleierhaft.
„Ich bin okay!“ schwindelte Madison. Sie würde sich keine Blöße geben. Sie war stark. Sie war entschlossen.
Wie Jassy. Madison würde nicht ohnmächtig niedersinken, sodass ein starker Mann sie vor dem Sturz bewahren musste.
„Ich bin okay“, wiederholte sie, und es klang schon viel besser.
Ihre Beteuerungen nützten nichts.
Kyle führte sie aus dem Raum zurück auf den Flur. Jimmy folgte ihnen verärgert, aber Kyle blieb nicht stehen, bis sie den Korridor verlassen hatten und in einem Aufenthaltsraum für Angestellte angelangt waren. Dieser war leer bis auf eine durchgesessene Couch, auf die Kyle Madison jetzt drückte.
Er fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar. „Madison, du bist weiß wie die Wand. Bist du dir sicher, dass du okay bist?“
Sie nickte.
„Natürlich ist sie okay“, sagte Jimmy ungeduldig. „Stimmt doch, Madison, oder?“
Selbstverständlich war sie nicht okay. Sie befürchtete noch immer, gleich umzukippen, verdammt. Aber sie wollte nicht, dass Kyle es merkte.
„Mir geht es gut. Ich bin absolut in Ordnung“, sagte sie und starrte Kyle durchdringend an. „Ich brauche keinen großen Bruder, der auf mich aufpasst.“ Eilig senkte sie den Kopf. Sie machte es schon wieder. Wild um sich schlagen. Sie verhielt sich kindisch, wo sie doch unnahbar und distanziert und würdevoll erscheinen wollte.
„Hör zu, Madison“, herrschte Kyle sie an, „bei einem solchen Anblick dreht sich selbst einem altgedienten Pathologen der Magen um. Und Polizisten, die sich einbilden, schon alles gesehen zu haben, bekommen weiche Knie und fangen an zu reihern. Du brauchst nicht so zu tun, als wärst du der verdammte Fels von Gibraltar.“
Sie schüttelte matt den Kopf. „Mir geht es wirklich gut.“
„Was hast du gesehen, Madison?“ drängte Jimmy ungeduldig.
Wieder zögerte sie. Sie hätte Jimmy erwürgen können. Das war nicht fair. Er hatte sie um ihre Hilfe gebeten. Aber er hatte kein Wort davon gesagt, dass Kyle dabei sein würde. Sie wollte Kyle nicht hier haben. Sie wollte nicht, dass er sie sah, wenn sie ihre Visionen hatte, sonst würde er wieder, wie damals beim Tod seiner Frau, denken, dass sie irgendeine Art …
Freak war.
„Madison? Um Himmels willen, Madison, das hier ist eine sehr böse Sache, verstehst du? Wir vermuten, dass sie etwas mit dem Fall zu tun hat, bei dem wir Kyle um seine Hilfe gebeten haben.“
Sie riss den Kopf hoch und starrte Kyle an.
„Ich möchte nicht, dass sie in die Sache verwickelt wird, Jimmy.“
„Das hast nicht du zu entscheiden“, wies Madison ihn zurecht, aber sie entnahm dem Blick, den Kyle Jimmy zuwarf, dass das Thema damit noch längst nicht vom Tisch war. Vielleicht hatte Kyle es ja doch zu entscheiden. Er arbeitete immerhin beim FBI und Jimmy nur bei der örtlichen Polizei. Sie runzelte die Stirn, beobachtete ihn. „Ich … ich habe dich gar nicht reinkommen sehen.“
„Ich habe bei der Autopsie zugeschaut.“
Er war einer der Anzüge gewesen. Natürlich.
„Madison …“, drängte Jimmy.
„Lassen Sie sie in Ruhe, Jimmy, ich möchte nicht, dass sie in die Sache verwickelt wird.“
„Kyle, ich
bin
bereits verwickelt.“ Sie
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