Dunkle Visionen
gelaufen war, als er den Entsetzensschrei seines Vaters gehört hatte. Er war in das Schlafzimmer seiner Eltern gerannt, wo er seinen Vater über Lainie kauernd vorgefunden hatte. Roger weinte laut, er schluchzte verzweifelt, und als er aufschaute, war sein Gesicht tränenüberströmt. Lainie lag tot in ihrem Blut. Das Messer ihres Mörders hatte eine Niere getroffen, und sie war gestorben.
Er gab sich einen inneren Ruck, als er spürte, wie sich ein Gefühl der Unsicherheit in ihm breit machte. Zugegeben, zuerst hatte er daran gedacht, dass Lainie seinen Vater schließlich doch noch so gereizt haben könnte, dass Roger für einen Moment den Verstand verloren – und sie getötet hatte. Aber am Ende war er zu dem Schluss gelangt, dass niemand in der Lage wäre, eine so große Trauer und Verzweiflung vorzutäuschen, wie Roger sie in dieser Nacht gezeigt hatte. Und er glaubte seinem Vater.
Damals nicht anders als heute.
„Was ist?“ fragte Jimmy.
„Nichts. Man soll den Toten nichts Schlechtes nachsagen, so heißt es doch, nicht? Lainie war eine Frau mit vielen Gesichtern. Möge sie in Frieden ruhen“, sagte Kyle leise. Aber mit der Erinnerung an Lainie kamen auch wieder die Gedanken an Madison.
Madison war nicht wie Lainie.
Und er machte sich mehr aus ihr, als er sich selbst eingestehen wollte, geschweige denn jemand anderem. Aber sie konnten einander verletzen und hatten es schon getan. Sie wussten beide, dass sie besser daran taten, Abstand zu halten.
Nun, im Augenblick war dies jedoch nicht möglich. Er durfte Madison praktisch nicht von der Seite weichen. Wie er das allerdings anstellen sollte, war ihm schleierhaft.
Jimmy lieferte ihn am Flughafen ab, wo er eine kleine Maschine buchte. Trotz der Tatsache, dass der Motor ohrenbetäubend laut war, döste er ein. In Key West nahm er sich ein Taxi. Der Fahrer fuhr langsam, und Kyle, der hinten saß, begann erneut, unruhig zu werden.
Es war fast Mitternacht, als sie durch die ruhigen Straßen auf Jordans Haus zufuhren.
Je näher sie kamen, desto mehr verstärkte sich Kyles Unruhe. Da Jordan sich im Augenblick in Miami aufhielt, war Madison in dem Haus mit der Haushälterin ihres Vaters allein, die ihr Zimmer in einem Nebengebäude auf der anderen Seite des Swimmingpools hatte.
Je unruhiger Kyle wurde, desto langsamer schien der Taxifahrer die Straßen hinunterzurollen.
„Können Sie nicht ein bisschen schneller fahren?“ drängte Kyle ungeduldig.
Der Taxifahrer brummte unwirsch irgendetwas in sich hinein, dann gab er so trotzig Gas, dass Kyle in seinen Sitz zurückgedrückt wurde. Aber immerhin rasten sie jetzt die Straße entlang, und als sie um die letzte Ecke bogen, kreischten die Reifen in wütendem Protest auf.
„Danke“, sagte Kyle und gab dem Fahrer ein großzügig bemessenes Trinkgeld. „Der Rest ist für Sie.“
Er rannte auf das Haus zu. Die Außenbeleuchtung war überall an; alles sah ganz normal aus. Aber der Schein trog oft.
Gewohnheitsmäßig tastete er seine Brust ab, um sich davon zu überzeugen, dass sein Schulterholster und die Pistole an ihrem Platz waren. Dann eilte er auf das Haus zu, während er bereits im Laufen in seiner Hosentasche nach den Haustürschlüsseln kramte.
Gerade als er den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, hörte er den ersten Schrei.
Kurz und schrill hing er einen Moment zitternd in der Nachtluft.
Ihm folgte umgehend ein zweiter Schrei, der im Gegensatz zum ersten lang gezogen und voller Angst war, ein Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte.
Für einen Sekundenbruchteil stand Kyle wie erstarrt da.
Dann schloss er hastig auf, zog seine Pistole und rannte den Flur hinunter.
In diesem Moment schrie Madison erneut.
12. KAPITEL
S ie war wieder in dem Haus. In Roger Montgomerys altem Haus am Coconut Grove. In dem Haus, in dem Lainie gestorben war.
Aber es gab mehr als nur einen Flur.
Der Hauptflur verzweigte sich in verschiedene Richtungen. Überall in den Fluren waberte silbriger Nebel, er war so dicht, dass man kaum durchsehen konnte. Sie konnte die Stimme ihrer Mutter hören, und sie wusste, dass sie zu Lainie musste, doch sie war sich nicht sicher, welcher Abzweigung sie folgen sollte.
Sie begann zu rennen.
Sie versuchte es zuerst beim ersten Flur, dann beim nächsten. Lainies Schreie wurden lauter, drängender, voller Angst. Jedes Mal, wenn sie zu rennen versuchte, wurde der Nebel dicker und dicker und wirbelte um sie herum wie eine Windhose. Plötzlich löste sich
Weitere Kostenlose Bücher