Dunkle Wasser
fing mein Tag an; ich kroch aus dem Bett, duschte im unteren Badezimmer, zog mich an und machte das Frühstück. Ich freute mich wieder auf die Schule und meine Freundinnen, die ich in den Ferien vernachlässigt hatte. Ich hatte jetzt auch gutsitzende Kleider, von denen Kitty nichts ahnte. Cal hatte viel zuviel dafür gezahlt, aber ich war furchtbar stolz auf sie.
Ich bemerkte, wie mir die Jungen mit mehr Interesse nachblickten, seit meine Figur nicht mehr unter zu weiten Kleidern verborgen blieb. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich etwas von der weiblichen Macht über die Männer.
Im Unterricht lauschte ich hingerissen, wie die Lehrer von berühmten Persönlichkeiten der Weltgeschichte erzählten.
Ließen die Geschichtslehrer die menschlichen Fehler dieser Leute einfach unter den Tisch fallen, um Schüler wie mich dazu anzuspornen, diesen Vorbildern nachzueifern? Würde ich je etwas Großes leisten? Oder Tom? Warum wurde ich so von dem Wunsch nach Bestätigung getrieben? Miß Deale hatte historische Personen als fehlbare Menschen dargestellt und damit Tom und mir Hoffnung gegeben.
Ich schloß neue Freundschaften, aber auch diese Freunde konnten ebensowenig wie die alten verstehen, warum ich sie nicht zu mir einladen durfte. »Wie ist denn deine Mutter?
Junge, die sieht ja vielleicht toll aus. Und dein Vater erst…
Mann! Das ist ein Typ!«
»Ist er nicht wunderbar?« sagte ich stolz. Warum sahen sie mich so komisch an? Die Lehrer behandelten mich immer mit besonderer Rücksicht, geradeso, als hätte Kitty ihnen erzählt, daß ich ein geistig unterbelichtetes Hillbilly-Mädchen sei. Ich lernte wie besessen, um das Gegenteil zu beweisen, und bald gelang es mir, die Achtung meiner Lehrer zu erringen. Ich konnte besonders gut Schreibmaschine schreiben. Ich verbrachte Stunden damit, Briefe zu schreiben – wenn Kitty nicht zu Hause war. Wenn sie jedoch da war, dann bereitete ihr das Geräusch der Schreibmaschine angeblich Kopfschmerzen.
Ihr bereitete sowieso alles Kopfschmerzen.
Cal kümmerte sich darum, daß ich Dutzende von neuen Kleidungsstücken bekam; Röcke, Blusen, Hosen, Shorts, Badeanzüge. Es waren Sachen, die Cal und ich auf unseren Einkaufsbummeln in Atlanta besorgt hatten und die er in einem der Schränke im Keller aufbewahrte, von denen Kitty meinte, daß sie gefährliches Werkzeug enthielten. Kitty fürchtete sich vor seinem elektrischen Werkzeug fast ebenso wie vor Insekten. In der Besenkammer im Gang waren meine häßlichen, übergroßen Kleider, die Kitty mir ausgesucht hatte, untergebracht. Sie hingen zwischen dem Staubsauger, den Wischlappen, Besen, Kübeln und anderen Gerätschaften. Es stand zwar auch ein Schrank in meinem Zimmer, aber der blieb immer verschlossen.
Ich besaß nun zwar die passenden Kleider, aber ich mußte doch alle Einladungen abschlagen, weil ich ja sofort nach der Schule in unser ach so pflegebedürftiges Haus eilen mußte. Die Hausarbeit stahl mir meine Jugend. Ich haßte die vielen Pflanzen; ich haßte die ausladenden Elefanten-Tische mit den lächerlichen Edelstein-Imitationen, die zudem einzeln poliert werden mußten. Wenn nur nicht die Tischflächen so beladen gewesen wären, dann hätte ich wenigstens mit dem Staubtuch auf einmal darüberfahren können, aber so mußte ich ständig etwas verrücken und dabei aufpassen, daß das Holz keinen Kratzer abbekam. Dann mußte ich schnell noch Kittys Unterwäsche zusammenlegen, ihre Kleider und Blusen im Schrank aufhängen, die Handtücher in den Wäscheschrank legen und darauf achten, daß nur die gefalteten Seiten übereinander lagen und vorne sichtbar waren. Mit tausend Regeln und Geboten machte Kitty aus ihrem Haus ein Ausstellungsstück – und dabei kamen eigentlich nur ihre
»Mädels«, um es zu bewundern.
Die Samstagnachmittage aber waren mehr als eine Entschädigung für die Gemeinheiten Kittys, die sie außerdem als meine gerechte Strafe betrachtete. Die Ohrfeigen, die ich bei jedem nichtigen Anlaß bekam, die grausamen Worte, die mein Selbstwertgefühl vernichten sollten, wurden durch die Kinogänge, die köstlichen Speisen in den Restaurants und durch die Spaziergänge durch Vergnügungsparks mehr als wettgemacht. In den Parks fütterten Cal und ich die Elefanten mit Erdnüssen und warfen dem Federvieh getrocknete Maiskörner zu. Ich konnte immer schon gut mit Tieren umgehen, und Cal war entzückt von meiner Fähigkeit, mit den Hühnern, Enten, Gänsen und sogar mit den Elefanten
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