Dunkle Wasser
Er liebte mich, ich war sicher, daß er mich liebte. Und wenn ich mich nachts in mein Bett kuschelte, wußte ich mich geborgen unter seinem Schutz.
Ende Februar feierten Cal und ich meinen siebzehnten Geburtstag. Ich war nun schon ein Jahr und einen Monat bei ihm und Kitty. Ich wußte, Cal war weder ein richtiger Vater noch ein Onkel, ich hatte überhaupt noch nie einen Mann wie ihn gesehen. Er war jemand, der ebenso wie ich eine Familie brauchte, jemanden, den er lieben konnte, und er fand sich eben mit dem Naheliegendsten zurecht. Nie schimpfte oder kritisierte er mich, nie sprach er ein lautes oder hartes Wort zu mir, wie Kitty das meistens tat.
Cal und ich waren Freunde. Ich wußte auch, daß ich ihn liebte. Er gab mir, was ich noch nie zuvor in meinem Leben gehabt hatte; er liebte mich, er brauchte mich, er verstand mich. Ich wäre für ihn lächelnd in den Tod gegangen.
Er kaufte mir Nylonstrümpfe und Stöckelschuhe als Geburtstagsgeschenk. Wenn Kitty nicht zu Hause war, übte ich, damit zu gehen. Es war so, als würde ich noch einmal das Gehen auf neuen, längeren Beinen lernen. Ich wurde mir auf einmal meiner Beine bewußt, sie gefielen mir außerordentlich, und ich achtete darauf, daß sie von allen bewundert werden konnten. Cal lachte mich aus. Natürlich mußte ich die Schuhe und die Nylonstrümpfe bei all den anderen Sachen im Keller verstecken, wo Kitty nie alleine hinging.
Es wurde schnell Frühling in Atlanta. Weil Cal und ich so viel Arbeit in den Garten investiert hatten, wurde er der schönste in Candlewick. Aber Kitty konnte den Garten gar nicht genießen, weil die Bienen um die Blumen summten, die Ameisen auf dem Boden krochen und winzige Spinnen sich mit ihren hauchdünnen Fäden in ihren Haaren verfingen. Einmal brach sich Kitty fast das Genick, als sie schreiend und kreischend versuchte, eines dieser Tierchen von ihrer Schulter herunterzuwischen.
Kitty fürchtete sich vor dunklen Winkeln, wo sich Spinnen oder Schaben verbergen konnten. Ameisen im Garten versetzten sie in Panik; Ameisen in der Küche führten bei ihr fast zum Herzschlag. Sie schrie selbst, wenn sich nur eine Fliege auf ihren Arm setzte.
Angst vor der Dunkelheit, Angst vor Würmern, Schmutz, Staub, Bakterien, Krankheiten und vor tausend anderen Dingen mehr, die mir entfallen sind – so war Kitty.
Wenn es Kitty zu arg trieb mit all ihren Befehlen und Forderungen, flüchtete ich in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und las in einem Buch, das ich aus der Schulbibliothek mitgenommen hatte – und verlor mich ganz in der Welt von
»Jane Eyre« oder »Sturmhöhe«. Ich las diese beiden Bücher immer wieder, und schließlich ging ich in die Bibliothek und suchte mir die Biographien der beiden Autorinnen, der Bronte-Schwestern, heraus.
Stück für Stück drängte ich Kittys bunte Tierparade mit meinen geliebten Büchern zurück. Ich hatte die Puppe aus dem Keller geholt und nahm sie jeden Tag aus der untersten Lade meines Kleiderschrankes hervor und sah mir ihr hübsches Gesicht an. Ich war fest entschlossen, eines Tages die Eltern meiner Mutter zu finden.
Manchmal zog ich auch die Kleider meiner Mutter an, aber sie waren alt und der Stoff schon brüchig. Ich beschloß, daß es besser sei, sie in den Schrank zu legen und sie für Boston aufzubewahren.
Tom schrieb mir lange Briefe, und auch Logan schrieb hie und da, aber ohne mir eigentlich irgend etwas Konkretes zu erzählen. Ich schickte immer noch Briefe an Fanny, auch wenn sie mir keinen einzigen beantwortete. Meine Welt war so eng und klein, daß ich das Gefühl hatte, mich von allen Menschen zu entfernen – außer von Cal.
Aber andererseits war mein Leben auch leichter geworden; die Hausarbeit, die mir früher Angst und Schrecken eingejagt hatte, mit all ihren komplizierten Vorrichtungen und Anleitungen, erledigte ich jetzt spielend. Ich hätte ebensogut mit dem Staubtuch in einer Hand und dem Staubsauger in der anderen auf die Welt gekommen sein können. Elektrizität gehörte jetzt schon zu meinem Leben, und ich hatte den Eindruck, daß es immer schon so gewesen sein müsse.
Von Tag zu Tag kam mir Cal immer mehr als mein Retter, mein Freund, mein Begleiter, mein Vertrauter vor. Er war mein Lehrer, mein Vater und mein Kavalier, wenn er mich ins Kino und in Restaurants begleitete; er mußte diese Rolle übernehmen, da meine Schulfreunde es aufgegeben hatten, mich zum Tanz oder ins Kino einzuladen. Wie hätte ich ihn auch alleine lassen können, nachdem er mir einmal
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