Dunkle Wasser
Ausbildung begann.
Als wir uns auf halbem Weg nach Winnerrow befanden, wurde mir klar, warum Miß Deale zu uns in die Berge gekommen war. Um ihre Begabungen denen zugute kommen zu lassen, die es am nötigsten hatten. Wir waren die Ausgestoßenen und Unterprivilegierten aus dem Kohlenrevier.
Vor langer Zeit hatte ich Tom einmal im Spaß gesagt, daß ich wie Miß Deale werden wollte; jetzt, wenn ich mich so umsah, war es mein sehnlichster Wunsch, eine so anregende Lehrerin wie sie zu werden. Ich war siebzehn; Logan besuchte bestimmt schon ein College und würde in den Sommerferien kurz zu Hause sein. Würde er Schuld und Scham auf meinem Gesicht ablesen können? Würde er mir ansehen, daß ich keine Jungfrau mehr war? Großmutter hatte immer gesagt, daß sie sofort feststellen könne, ob ein Mädchen »unrein« sei. Logan durfte ich nichts über Cal erzählen, niemandem durfte ich es erzählen, nicht einmal Tom. Während ich so dasaß und nachdachte, lastete das Gewicht meiner Schuld schwer auf mir.
Wir ließen Meile für Meile hinter uns. Schließlich erreichten wir die bergige Gegend, in Serpentinen ging es immer höher hinauf. Bald wurden die Abstände zwischen den Tankstellen größer. Die luxuriösen, weitausladenden Motels wurden durch kleine Hütten ersetzt, die in schattigen Wäldern versteckt lagen. Schäbige, graue Häuser kündigten eine kleine, abgelegene Stadt an. Dann ließen wir auch diese hinter uns.
Auf die Willies, die finsteren Berge, führte keine Schnellstraße. Was für einen beängstigenden Klang dieser Name jetzt hatte.
Ich sah die Gegend mit den gleichen Augen, wie meine Mutter sie vor über siebzehn Jahren gesehen haben mußte. Sie wäre jetzt erst einunddreißig Jahre alt gewesen, wenn sie noch gelebt hätte. Wie furchtbar, daß sie so jung sterben mußte.
Nein, sie hätte nicht sterben müssen. Unwissenheit und die Ignoranz, die auf den Bergen herrschte, hatten sie umgebracht.
Wie hatte Mutter nur Luke Casteel heiraten können? Welcher Wahn hatte sie aus einer kultivierten Gegend wie Boston getrieben und sie hierher verschlagen, wo Erziehung und Bildung als lächerlich betrachtet wurden?
Ich warf einen Blick auf Kitty. Sie schien eingeschlafen zu sein.
Vor uns auf der Straße kam eine Kreuzung. Cal bog nach rechts ab, wir ließen die kleine, ungeteerte Straße, die hoch hinauf zu unserer armseligen Hütte führte, links liegen. Alles kam mir wieder so bekannt vor, als hätte ich es nie verlassen.
Die Erinnerungen kehrten auf einmal wieder zurück, meine Nase kitzelten die mir bekannten Düfte von Geißblatt, Erdbeeren und reifen Himbeeren.
Fast hörte ich die Banjos aufspielen, hörte wie Großvater auf seiner Geige fiedelte und sah Großmutter in ihrem Schaukelstuhl, sah wie Tom durch die Wiesen lief, hörte Unsere-Jane weinen, während Keith immer in ihrer Nähe stand und liebevoll auf sie aufpaßte. Trotz aller Unwissenheit und Dummheit, die das Leben in den Bergen bestimmt hatten, gab es auch die Freuden und Schönheiten, die Gott uns geschenkt hatte.
Nach jeder Meile wurde ich ungeduldiger und aufgeregter.
Dann erreichten wir die großen, grünen Felder vor Winnerrow; gepflegte Felder der Farmer mit Sommergetreide, das bald geerntet werden würde. Nach den Farmen kamen die Häuser der Ärmsten im Tal, denen es nicht viel besser ging als den echten Hillbillys. Über den armen Talbewohnern befanden sich die Hütten der Bergarbeiter, dazwischen lagen die kleinen Schuppen, in denen der verbotene Schnaps gebrannt wurde.
Tief unten im Tal wohnten die Wohlhabenden, dort, wohin der fruchtbare Schlick der Berge von den schweren Frühlingsregen hinuntergeschwemmt wurde. Er war der Humus für die Gärten jener Familien in Winnerrow, die es am wenigsten brauchten. Deshalb wuchsen um die großen, reichen Häuser in Winnerrow auch die schönsten Tulpen, Narzissen, Iris und Rosen. Kein Wunder also, daß man die Stadt Winnerrow nannte – die Straße der Gewinner. Jeder, der es zu etwas gebracht hatte, wohnte in der Hauptstraße – der Main Street, und alle, die nicht weitergekommen waren, lebten in den Bergen. Die Besitzer der Kohleminen hatten sich die prunkvollen Villen gebaut wie die Goldminenbesitzer, deren Bergwerke schon vor langer Zeit versiegt waren. Jetzt gehörten die Häuser den Baumwollfabrikanten und deren Geschäftsführern.
Cal fuhr die Main Street hinab, vorbei an den pastellfarbenen Villen der Reichen, dann folgten die weniger prachtvollen Häuser der Mittelklasse, der
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