Dunkle Wasser
wenigstens mit vollem Bauch.«
An diesem Abend aßen wir uns satt. Wir vertilgten ein ganzes Huhn, das andere hoben wir für den nächsten Tag auf. Aber am übernächsten Tag waren beide Hühner verspeist, und wir standen wieder vor dem gleichen Problem. Nichts zu essen.
Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg, flüsterte mir Tom zu und versicherte mir, ich brauche mir keine Sorgen zu machen.
»Wird Zeit, Ehrlichkeit und Ehre zu vergessen und zu klauen«, räsonierte er. »Ist mir kein einziges Wild übern Weg gelaufen. Nicht mal ‘n Waschbär. Hätt’ sogar ‘ne Eule erbeutet, hab’ aber keine schreien gehört. Jeden Abend, wenn’s dämmert und die Leute in Winnerrow sich gemütlich an den Tisch setzen, um zu futtern, dann schleichen Fanny, du und ich ins Tal und klauen, was uns in die Hände fällt.«
»Prima Idee!« schrie Fanny entzückt. »Die haben doch keine Gewehre in ihren Häuser, oder?«
»Weiß nicht«, antwortete Tom, »wir werden’s wohl bald herausfinden.«
Es war ein angsteinflößendes, schauriges Unternehmen, auf das wir uns am nächsten Abend in der Dämmerung einließen.
Das Huhn vom Vorabend gab uns die nötige Courage. Wir trugen dunkle Kleider und hatten unsere Gesichter mit Ruß geschwärzt. Wir trotteten durch die Kälte, bis wir eine kleine Farm, die dem geizigsten Menschen der Welt gehörte, am Rande der Stadt erreicht hatten. Und was noch schlimmer war, er hatte fünf riesenhafte Söhne und vier enorme Töchter, neben denen sogar Sarah klein und zierlich ausgesehen hätte.
Fanny, Tom und ich hielten uns im Gebüsch und hinter den Tannen versteckt, bis wir sicher waren, daß jedes einzelne Mitglied der Familie sich an den Tisch gesetzt hatte. Dabei veranstalteten sie so einen Lärm, daß er unser übliches Geschrei leicht übertönt hätte. Der Hof war, wie bei uns früher, voller Hunde, Katzen und Kätzchen.
»Beruhig die Hunde«, zischte Tom mir zu, »damit Fanny und ich in der Zwischenzeit in den Hühnerstall eindringen können, ohne daß ich die Flinte gebrauchen muß.« Er machte Fanny ein Zeichen. »Schnapp sie an den Beinen, zwei an jeder Hand, und ich hol’ mir vier Stück. Das dürfte für ‘ne Weile ausreichen.«
»Picken die einen?« wollte Fanny mit einem eigenartigen Ausdruck im Gesicht wissen.
»I wo, hast noch nie von ‘nem dummen Huhn gehört? Die tun nicht weh, die gackern nur viel.«
Tom hatte mich damit beauftragt, den wohl bissigsten Hund, den ich je gesehen hatte, abzulenken und zu besänftigen. Ich konnte gut mit Tieren umgehen, und meistens waren sie zutraulich zu mir – aber diese riesige Dogge… Nach seinen feindseligen Augen zu schließen, hatte der Hund sofort eine heftige Abneigung gegen mich gefaßt. Ich hatte eine kleine Tüte mit Hühnerklein und Hühnerkrallen bei mir.
Geräuschvoll saßen die McLeroys geraden drinnen bei Tisch.
Ich warf dem Hund ein Hühnerbein hin und rief ihm leise zu:
»Liebes Hündchen… magst mich doch, ich tu dir nichts…
Komm, friß die Hühnerkralle… Komm, komm doch, friß.«
Widerwillig schnüffelte er an der vertrockneten gelben Hühnerkralle. Dann knurrte er. Es wirkte wie ein Signal auf alle anderen Hunde. Es müssen etwa sieben oder acht von ihnen im Hof gewesen sein, die die Schweine, Hühner und alle anderen Tiere in ihren Ställen bewachten. Plötzlich stürzten sich alle Hunde auf mich! Mit wütendem Gebell rannten sie auf mich zu und entblößten dabei ihre Zähne, die so scharf und gefährlich waren, wie ich es noch niemals gesehen hatte.
»Stehenbleiben!« befahl ich in strengem Ton. »Schluß! Habt ihr gehört?«
Aus der Küche brüllte eine Frau gerade denselben Befehl.
Die Hunde blieben unentschlossen stehen. Ich nutzte die Zeit und warf ihnen das Hühnerklein und die restlichen Hühnerkrallen zu. Sie machten sich darüber her und verschlangen alles. Es war viel zu wenig gewesen, und sie kamen schwanzwedelnd auf mich zu, um noch mehr zu erbetteln.
In diesem Augenblick erscholl ein ohrenbetäubendes Gegacker aus dem Hühnerstall – und die Hunde rasten los.
»Halt!« befahl ich. »Feuer!« Ein Hund blickte sich unentschlossen um, während ich mich schnell über das Laub beugte, das wohl einer der faulen Söhne oder eine der Töchter nicht zusammengekehrt und auf den Komposthaufen geworfen hatte, und so tat, als wolle ich es anzünden.
»Mutter!« brüllte einer der Männer in Overalls. »Jemand brennt den Hof an!«
Ich rannte los.
Noch nie war ich so schnell gerannt. Ich war keine
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