Dunkle Wasser
Lester, stell dir vor, das Kind ist schon sieben Jahre alt –
und der Junge?«
»Acht Jahre«, rief ich. »Zu alt zum Adoptieren! Und Unsere-Jane kränkelt«, fuhr ich fort, in der Hoffnung, damit etwas zu erreichen. »Sie war eigentlich nie gesund. Sie erbricht sich oft, schnappt jede Krankheit auf, ist dauernd erkältet und hat oft hohes Fieber…« Ich hätte immer so weiterreden können und Unserer-Jane die Chance verdorben – selbst wenn es zu ihrem Besten gewesen wäre –, aber Vater sah mich zornig an, und ich verstummte.
»Dann nehmen wir den kleinen Jungen«, sagte der dicke Mann namens Lester und zog seine gefüllte Brieftasche hervor.
»Ich wollte schon immer einen Sohn, und dieser Bursche ist ein gutaussehender junger Mann und seinen Preis wert, Mr.
Casteel. Fünfhundert, abgemacht?«
Unsere-Jane fing zu schreien an.
»Nein! Nein! Nein!« brüllte sie mir direkt ins Ohr.
Sie wand sich aus meiner Umklammerung, dabei schluchzte sie vor Verzweiflung, die für das zarte Mädchen viel zu groß war. Keith sah sie leiden, begann mit ihr zu weinen, und klammerte sich an seiner Schwester fest.
Wieder suchte ich verzweifelt nach Worten: »Keith ist nicht der Junge, den Sie sich als Sohn wünschen. Er ist sehr still, er fürchtet sich vor der Dunkelheit und hat die meiste Zeit Angst.
Außerdem kann er nicht ohne seine Schwester sein. Du willst doch nicht fort, nicht wahr, Keith?«
»Will nicht gehen!« schrie Keith.
»Nein! Nein! Nein!« jammerte Unsere-Jane.
»Ach Lester, ist das nicht entsetzlich traurig? Wir können die zwei lieben Kleinen nicht auseinanderreißen. Lester, warum nehmen wir nicht alle beide? Wir können es uns doch leisten.
Dann brauchen sie nicht mehr so zu weinen, und die Familie wird ihnen nicht ganz so fehlen. Und du wirst einen Sohn und ich eine Tochter haben, und wir werden eine glückliche, vierköpfige Familie sein.«
Mein Gott, ich wollte beide retten und hatte nun beide verloren!
Aber eine schwache Hoffnung bestand noch, denn Lester zögerte etwas, obwohl seine Frau ständig auf ihn einredete.
Wenn Vater nur still geblieben wäre. Aber er sagte sehr ernst und beeindruckt: »Also, das nenne ich eine Frau mit einem goldenen Herzen, die bereit ist, zwei zu beschenken, statt nur ein Kind.« Das gab den Ausschlag. Lester hatte seinen Entschluß gefaßt. Er zog Papiere aus seiner Tasche und fügte zwei Zeilen hinzu. Vater beugte sich darüber und malte seine Unterschrift mit großer Sorgfalt darunter.
Während das Geschäft abgewickelt wurde, ging ich zum Ofen und nahm den schweren Schürhaken. Ich umklammerte ihn mit beiden Händen, hob ihn hoch über meinen Kopf und brachte sogar den Mut auf, Vater anzuschreien: »Laß das! Ich erlaube es nicht! Vater, die Behörden werden dich einsperren, wenn du dein eigenes Fleisch und Blut verkaufst. Keith und Unsere-Jane sind keine Schweine oder Hühner, die man zum Verkauf anbietet. Es sind deine Kinder!«
Blitzartig drehte Vater sich um, während Tom auf mich zustürzte, um mir zu helfen. Eine schmerzhafte Drehung meines Armes, und ich mußte den Schürhaken fallen lassen, sonst wäre der Knochen gebrochen. Krachend fiel das Gerät zu Boden.
Die mollige Frau sah mich erschrocken an. »Mr. Casteel! Sie sagten doch, Sie hätten das alles mit Ihren Kindern besprochen. Sie waren doch einverstanden damit, nicht wahr?«
»Ja, natürlich waren sie einverstanden«, log Vater. Seine charmante und scheinbar ehrliche Art erweckten den Anschein von Aufrichtigkeit, die wie eine Hypnose das Paar zu überzeugen schien. »Sie wissen doch, wie Kinder sind, einen Augenblick stimmen sie mit einem überein, im nächsten sind sie anderer Meinung. Spätestens wenn sie in den Genuß des Geldes kommen, wissen alle, daß ich’s richtig gemacht hab!«
Nein! Nein! schrie es innerlich in mir. Glaubt ihm nicht, er lügt! Aber ich war verstummt bei dem Gedanken, daß ich meinen kleinen Bruder und meine kleine Schwester nie wiedersehen würde.
Noch bevor es uns richtig ins Bewußtsein gedrungen war, hatte Vater Unsere-Jane und Keith wie Schweine auf dem Markt verkauft. Lester sagte noch zu Vater: »Ich hoffe, Mr.
Casteel, Sie sind sich darüber im klaren, daß dieses Geschäft rechtsverbindlich ist. Wenn wir fort sind, können Sie nie wieder Anspruch auf Ihre beiden Kinder erheben. Ich bin Rechtsanwalt und habe Ihnen einen Vertrag aufgesetzt, in dem es heißt, daß Sie die Bedingungen und Folgen Ihrer Handlung zur Kenntnis genommen haben und aus freien
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