Dunkle Wasser
auf Schnellstraßen, unter Eisenbahnviadukten hindurch, über Brücken, durch große, kleine und mittlere Städte immer weiter nach Atlanta.
Mir verschlug es den Atem beim Anblick der Wolkenkratzer, die hoch in den schwarzen Nachthimmel ragten und im Licht der vielen Fenster glitzerten, während oben Wolkenfetzen wie Tücher an ihnen herabwallten. Mit offenem Mund sah ich die Schaufenster in der Peachtree Street und starrte auf die Verkehrspolizisten. Einige von ihnen waren beritten, die anderen standen furchtlos mitten im Verkehrsgewühl.
Fußgänger spazierten auf und ab, als wäre es Mittag und nicht schon lange nach neun Uhr. Trotz der vielen Eindrücke mußte ich immer wieder meine schlaftrunkenen Augen reiben.
Plötzlich sang jemand mit lauter Stimme. Kitty hatte das Radio aufgedreht und sich eng an Cal geschmiegt, wobei sie anscheinend irgend etwas mit ihm anstellte, so daß er sie bat, damit aufzuhören. »Kitty, alles zu seiner Zeit – und das ist jetzt weder der passende Ort noch der rechte Augenblick. Bitte, nimm die Hand weg.«
Was machte Kitty nur? Ich rieb mir die Augen und beugte mich vor, um nachzusehen, als Cal gerade den Reißverschluß seiner Hose hochzog. War das denn schön? Fanny würde diese Frage gewiß bejahen. Ich lehnte mich schnell wieder nach hinten, aus Angst, Kitty könnte herausbekommen, daß ich etwas gesehen hatte, was mich überhaupt nichts anging.
Wieder starrte ich aus dem Fenster. Die große Stadtlandschaft mit ihren majestätischen Hochhäusern war verschwunden. Die Straßen waren jetzt weniger breit und geschäftig.
»Wir leben in einem Vorort«, erklärte Cal angeregt. »Es ist ein Bezirk namens Candlewick. Die Häuser sind alle gleich hoch und sehen fast alle gleich aus. Es gibt eine Auswahl von sechs Stilarten, du kannst dir eine aussuchen, und dann bauen sie dir ein Haus danach. Deinen individuellen Geschmack kannst du nur in der Einrichtung des Hauses zeigen und in der Art und Weise, wie du es außen herrichtest. Wir hoffen, daß du gerne hier leben wirst, Heaven. Wir wollen unser Bestes für dich tun und dir ein Leben bieten, das wir auch unseren eigenen Kindern bieten würden, wenn wir welche haben könnten. Deine Schule ist ganz in der Nähe, du kannst dorthin zu Fuß gehen.«
Empört schnaufend murmelte Kitty vor sich hin: »Moment mal. Was macht das schon aus? Sie wird in die Schule gehen, und wenn sie hinkriechen muß. Ich werd’ nicht so blöd sein und mir meinen Ruf wegen eines ungebildeten Kindes ruinieren.«
Ich setzte mich aufrecht und strengte mich an, die Augen offen zu halten. Ich wollte auf keinen Fall den ersten Blick auf mein neues Zuhause versäumen und studierte interessiert die Häuser, die, wie Cal schon erwähnt hatte, fast alle gleich aussahen, aber eben nicht ganz. Es waren hübsche Häuser.
Sicherlich besaß jedes von ihnen ein Badezimmer, wenn nicht mehrere. Und natürlich all die wunderbaren elektrischen Einrichtungen, ohne die die Städter nicht auskamen.
Der Wagen fuhr die Auffahrt hoch, und eine Garagentür klappte wie von Zauberhand bewegt nach oben. Als wir in der Garage hielten, schrie Kitty, ich solle aufwachen.
»Wir sind zu Hause, Kind.«
Zu Hause.
Schnell öffnete ich die Wagentür und trat aus der Garage. Ich starrte auf das Haus, das vom fahlen Mondlicht beleuchtet wurde. Es war zweistöckig. Wie hübsch es aussah, umgeben von üppigen Sträuchern, die meisten davon immergrüne Pflanzen. Es war aus roten Ziegeln gebaut und hatte weiße Fensterläden.
»Cal, schmeiß ihr schmutziges Zeug in den Keller, wo es hingehört – wenn es überhaupt wo hingehört.« Traurig sah ich zu, wie der Koffer meiner Mutter mit den wunderbaren Sachen verschwand… Kitty konnte natürlich nicht ahnen, was sich unter dem dunklen, gestrickten Schal verbarg.
»Komm«, rief Kitty ungeduldig. »Es geht auf elf Uhr zu. Bin todmüde. Hast ein ganzes Leben, um das Haus anzustarren, hörst du mich?«
Es klang so endgültig, als sie das sagte.
12. KAPITEL
MEIN NEUES ZUHAUSE
Kitty knipste den Lichtschalter neben der Tür an, und das ganze Haus erstrahlte in hellem Licht. Was ich sah, verschlug mir den Atem.
Wahrhaftig, dieses blitzblanke, moderne Haus war wunderschön. Der Gedanke daran, daß ich in diesem Haus wohnen würde, machte mich ganz glücklich. Alles war so weiß und rein wie frischgefallener Schnee – dabei so elegant! Ein Schauer durchrieselte mich beim Anblick dieser schneeweißen Reinheit. Tief in meinem Inneren hatte ich
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